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Kultur: In den Schächten der Seele Nach Hebel: „Unter Tage“ im Orph-Theater

Unter Tage sind die Gänge schmal. Doch wie beengend die Wände auch sind, der Raum, der sich hier auftut, ist allemal weit.

Unter Tage sind die Gänge schmal. Doch wie beengend die Wände auch sind, der Raum, der sich hier auftut, ist allemal weit. Unter Tage sind die besten Geschichten vergraben. Ein junger Bergarbeiter ist verschütt gegangen, acht Tage vor der Hochzeit, auch seine Braut ist seitdem eingesperrt: in ihrer Trauer und Angst vorm Vergessen. Johann Peter Hebels Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“, die Ernst Bloch die „schönste Kurzgeschichte der deutschen Literatur“ nannte, schildert das Vorbeistreichen der Weltgeschichte – und das Wiedersehen der alten Frau mit dem durch Vitriol konservierten, noch jugendlichen Leichnam ihres Liebsten, den Bergleute Jahrzehnte später finden.

Auch im Orph-Theater sind die Wände schmal. „Unter Tage“ heißt das Gastspiel des süddeutschen ImPuls-Theaters, bei dem zwei Protagonistinnen im flackernden Licht einer Kerze die Fetzen der Vergangenheit suchen. Mit zwei Schauspielerinnen (Suse Meyer und Pia Röver) hat Regisseur Andreas Wiedermann die von der Theatergruppe selbst dramatisierte Fassung inszeniert. Es öffnen sich die Räume zwischen den Hebel’schen Zeilen, und all’ das, was ungeschrieben dort doch noch zu finden ist, bekommt hier Platz. In der Weltabgewandtheit eines resignierten Lebens trifft die alte Frau auf die junge, die sie einmal war, beide erleben den frischen und den erinnerten Schock des Verlusts.

Ein Spiel der Perspektiven tut sich „Unter Tage“ auf – konkret an Hebels Text, abstrakt sich vorwagend in die Schächte der Seele. Das starke Spiel der Schauspielerinnen, die sich mit sparsamem Gebrauch des Hebel’schen Alemannisch sicher auch über kitschverdächtige Passagen bewegen, schafft ein Gespinst aus Seelenbewegungen. Gegen Ende wird es durch den Einsatz einer allzu konkreten Figur des zurückkehrenden Bräutigams entkräftet. Die vorher sorgsam aufgespannten Räume klappen zusammen. Und die Leidenschaft, mit der sich fünfzig Jahre angestaute Sehnsucht entladen, ist kaum noch nachzuvollziehen.

Orphtheater, Ackerstr. 169 (Mitte), 14.–19., 21.–26. Juni, 20 Uhr.

Annette Jahn

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