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Kultur: In der Halle des Schweigens

Wolfgang Hilbig nimmt den Georg-Büchner-Preis 2002 entgegen

Als Wolfgang Hilbig vor zwölf Jahren in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt wurde, stellte er sich mit einer biografischen Skizze selbst vor. Er beschreibt darin, wie er 1941 im Bergarbeiterstädtchen Meuselwitz bei Leipzig in den Krieg hineingeboren wurde und bereits als Kind zu schreiben begonnen hat: „Wahrscheinlich war dieses Schreiben ein Lektüre-Ergebnis; Lesen war für mich eine Hauptbeschäftigung in der Kindheit, und dies, obwohl ich mich damit dem dauernden Argwohn des Großvaters aussetzte, er konnte weder lesen noch schreiben, verständlich, dass er sich um einen Teil der Wirklichkeit betrogen fühlte und allen seinen Nächsten das Lesen am liebsten verboten hätte.“

Hilbig war infiziert von der Literatur, zunächst von Cowboygeschichten, später dann von den Symbolisten und den Romantikern und von allem, was die Moderne hergab und in der DDR verfügbar war. Verbieten ließ der junge Arbeiter Hilbig sich nichts mehr. Auch nicht von den Funktionären des Staates, die, hätten sie es denn wirklich mitbekommen, erschreckt gewesen wären, dass hier ein Kumpel ihre Doktrin ernst nahm und zur Feder griff. Und zwar mit aller Sprachgewalt, die sich in ihm nach der Lektüre bildgewaltiger Autoren geformt hatte. Und mit ganz kleiner Schrift, ein wenig gehetzt, was er als Folge eines produktiv gemachten Mangels beschreibt: Auf kleinen Zetteln musste er, tätig als Heizer in der Metallindustrie, in den Pausen möglichst viele Wörter unterbringen.

Die Zeiten der Doppelexistenz von Arbeiter und Schreiber, die in seinen Texten weiter fortwirken, sind lange vorbei. Wolfgang Hilbig hat am vergangenen Wochenende in Anwesenheit von Bundespräsident Johannes Rau den bedeutendsten Literaturpreis des Landes überreicht bekommen: den mit 40 000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis. Selten zuvor ist die Entscheidung der Akademie so einhellig begrüßt worden.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ehrt damit einen Schriftsteller, wie es in der Urkunde heißt, „der in der ungeheuren leeren Halle des Schweigens seine Stimme wagte, um der Wortlosigkeit zu entkommen.“ Denkt man an den Lebensweg Hilbigs, dann ist die Formulierung durchaus treffend: In allem geht es ihm um die Überwindung von Sprachlosigkeit. Sein Blick dringt, durchzogen von einer düsteren Wahrnehmungskraft, in die Sphären einer das Subjekt zerstörenden und zerstörten Umwelt vor. Und attackiert gleichzeitig die Restriktionen der Wahrnehmungswut. Das wird auch in seiner Dankrede deutlich, die er mit einer Rückblende in den Oktober 1961 beginnt: Damals, empfand Hilbig, sollte dem unmündigen DDR-Bürger mit dem Mauerbau von staatlicher Seite ein Heimatgefühl aufoktroyiert werden. Andere Zwangsmaßnahmen schlossen sich an, und Wolfgang Hilbig wurde aus dem Produktionsbereich zur „einsamen Tätigkeit des Heizers im Heizungskeller“ verdonnert, von der er sich allerdings nicht mehr ins Reich des Tageslichts zurückmeldete.

Hier, ganz unten, wo das Betreten für Unbefugte verboten war, wo es tiefer nicht mehr ging, schien das ideale Refugium gefunden zu sein, in dem Hilbig zum Schriftsteller reifen konnte. „Ich wollte schreiben, nichts anderes, ich sagte es niemandem, es war ein Geheimnis, das in diesem Keller mit der rostigen Wärmeversorgungsanlage in mich eingetreten war.“ Das Geheimnis des Schreibens allerdings empfindet Hilbig stets als ein bedrohtes – bedroht zunächst durch die Stasi, später dann durch die Massenmedien: „Die Massenmedien sind Apparate zur Lüftung jedweden Geheimnisses, und sie sind damit Apparate, die dem Vergessen dienen“, sagt Hilbig in seinem sächsischen Idiom, in einer Tonmelodie, die sich am Ende des Satzes oft aufschwingt, als würde etwas in Frage gestellt. Kultur- und Bewusstseinsindustrie nannte man einmal, was Hilbig anprangert – die Medien als gefräßige Aktualitätsmaschinen, die eine geistige „Leere“ hinterlassen.

Die Stellung der Literatur, so Hilbigs kulturpessimistische Diagnose, sei heute vage und diffus, „so randständig und auf sich selbst zurückgeworfen, dass kein Mensch mehr daran denkt, sie für irgendeinen Zweck zu gebrauchen.“ Die Literatur erwehre sich gegen diese Randständigkeit, indem sie sich den Medien anheischig mache. Für Wolfgang Hilbig, der auf angenehme Weise mit den Medien inkompatibel zu sein scheint, der falsche Weg, weil die Literatur so ihren ureigenen Platz aufgebe. Der Platz der Literatur sei der Monolog, wie er rekurrierend auf den Büchner-Preisträger des Jahres 1961, Hans Erich Nossack, feststellt. Nur als Monolog, auch im Kopf des Lesers, könne sie funktionieren. Der Monolog aber sei eigentlich Zwiesprache mit den Texten und zwischen den Texten, auch über die Jahrhunderte hinweg. Der Leser werde zum Fragesteller, er gerate in Widerspruch. Und „dieser Widerspruch kann der Anfang sein für eine Veränderung“.

Über seine Zwiesprache mit Hilbig berichtete der Schriftsteller Georg Klein in einer höchst selbstbezüglichen Laudatio; schon früh sei er „von den Wogen“ der „unerhörten Sprache“ Hilbigs getragen worden. Klein erzählte im stilistisch zwischen schwärmerischem Schwulst und artifiziell-poetischer Anmutigkeit oszillierenden Klein-Sound von einer persönlichen Aneignung der Hilbigschen Texte, die er mit der klischierenden Aneignung von Literatur durch kommentierende Prosa kontrastierte. In jeder Ehrung, warnte er zudem, sei eine Kehrseite, die „Mitgift zeitgenössischer Niedertracht“, enthalten. Von Niederträchtigkeit aber war zumindest an diesem Tag nichts zu spüren.

Bei der Veranstaltung, die zum Abschluss der Herbsttagung der Akademie stattfand und vom Tod des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld überschattet war, wurden außerdem der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay an den Literaturwissenschaftler Volker Klotz sowie der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa an den Religionswissenschaftler Klaus Heinrich verliehen.

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