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Kultur: In der Zeitmaschine

Zypern ist ein geteiltes Land. Die EU soll es vereinen. Eine Erinnerung an den Tag, als sich die Grenze zwischen Griechen und Türken öffnete.

Von Niki Marangou

Von Einigkeit kann keine Rede sein. Das heutige Referendum über den EUBeitritt des geteilten Zypern ist geknüpft an UN-Generalsekretär Kofi Annans Plan, aus Zypern einen wiedervereinigten Bundesstaat mit einem griechischen und einem türkischen Kanton zu machen. Viele Türken sind für den UNO-Plan, weil er ihre Besatzerrolle legalisiert. Viele Griechen sind aus genau diesem Grund dagegen. Aber sie sind gespalten. Die größte griechisch-zypriotische Partei der Regierungskoalition, die kommunistische Akel, wollte dem Plan zustimmen. Der von ihr unterstützte Präsident Tassos Papadopoulos hat aber eben erst seine Landsleute unter Tränen aufgerufen, gegen die Vereinigung zu stimmen. Die Türken wiederum hätten das Referendum am liebsten verschoben. Der absehbare Dissens wird Annans Drohung zufolge dazu führen, dass am 1. Mai nur der griechische Teil Zyperns der Europäischen Union beitritt.

Es war vor einem Jahr, Dienstagnacht vor Ostern. Im Fernsehen hieß es, Rauf Denktasch, der Führer der türkischen Zyprioten, habe das seit der türkischen Invasion 1974 geltende Reiseverbot zwischen Nord- und Südzypern aufgehoben. Die hermetisch abgeriegelten Gebiete sollten nach 29 Jahren wieder zugänglich sein? Wir trauten unseren Ohren nicht. Dann sagte Constantis, mein Mann: „Morgen fahren wir in den Norden.“ Er war an der Nase operiert worden und blutete noch, aber er ließ sich nicht umstimmen. „Soll ich, wenn Denktasch es sich anders überlegt, noch einmal 29 Jahre warten, um mein Haus wiederzusehen?“

Nach der Grenzöffnung passierten wir in aller Frühe den Übergang Ledra Palas in Nikosia. Die Häuser hinter der Grenze waren mir noch in guter Erinnerung. Hier war ich aufgewachsen, und als wir durch die Straßen fuhren, sah ich wieder, was lange nur Erinnerung gewesen war. Selbst das Kebab-Restaurant, das meine Geschwister und ich mit meinem verstorbenen Vater oft besucht hatten, stand unverändert da. Die Armut des Nordens, die das Ergebnis der politischen Isolierung ist, hat dazu geführt, dass die Altstadt von Nikosia wie damals aussieht – ganz im Gegensatz zum griechischen Süden Zyperns.

Wir ließen Nikosia hinter uns und fuhren auf einer neuen, kaum befahrenen Straße Richtung Famagusta. Rechts und links lagen Kasernen und die Dörfer der Mesaoria-Ebene mit ihren einsamen Kirchen. Vor der venezianischen Stadtmauer von Famagusta erhob sich eine riesige Statue von Atatürk. Wir folgten den Hafenanlagen bis zum Constantia Hotel, stiegen aus und liefen barfuß über den Strand, an dem ich die Sommer meiner Kindheit verbracht habe.

In einiger Entfernung lag Stacheldraht. Das Zentrum von Famagusta ist seit 29 Jahren eingezäunt, eine tote Stadt. Hinter der Absperrung lag unser ehemaliges Sommerhaus. An der Veranda leckten die Wellen, das Fensterglas war zerbrochen. Obwohl das Wasser kalt war, versuchten wir, näher heranzuwaten. Doch ein Wachposten begann, auf Türkisch zu schreien. Wir blieben stehen, und ich verrenkte mir den Hals nach dem Haus meines Onkels. Von ihm war nur eine Ecke der Veranda zu sehen. In seiner großen Bibliothek hatte ich Bücher lieben gelernt. Er hatte sein Leben lang Bücher gesammelt, vor allem Berichte aus dem 16. und 17. Jahrhundert über Reisen in die Levante, aber er starb, ohne erfahren zu haben, was nach der Flucht aus ihnen geworden war.

Das Haus von Constantis Eltern lag günstiger, blieb aber genauso unerreichbar. Der Soldat ließ nicht mit sich handeln. Kilometerlang fuhren wir am Stacheldraht entlang, um das Zentrum herum. Dahinter wartete in einer traurigen Reihe Haus auf Haus: das Haus der Großeltern, die der Nachbarn. Die Fenster fehlten, die Zimmer waren geplündert. Manchmal standen Tisch und Stühle in einer dunklen Küche, oder ein offener Koffer lag auf einem zusammengebrochenen Bett. Ein Paar Schuhe ruhte auf einem Brett. Bäume wuchsen aus Straßen und Fenstern, Bougainvilleas überwucherten die Dächer. „Halt!“, hieß es plötzlich. Ein Mann und eine Frau standen lächelnd auf der Straße. Sie luden uns in ihr Haus diesseits des Stacheldrahts ein. Emine, die Frau, reichte Limonade und zeigte voller Stolz Fotos von Kindern und Enkelkindern. „Ich möchte den Eigentümer dieses Hauses kennen lernen“, sagte ihr Mann Mehmet. „Wir bewohnen es seit 20 Jahren. Ich habe gut darauf aufgepasst und eine Klimaanlage eingebaut. Hoffentlich kommt er bald zurück, und ich kann wieder in meinem Haus in Limassol wohnen.“

In Karpass und jenseits der Bergkette in Kyrenia – überall hieß es „Hosgediniz“, Willkommen, sobald die Menschen das griechisch-zypriotische Nummernschild unseres Autos sahen. Als die Sonne unterging, betraten wir das Dom Hotel in Nikosia. Vor der Invasion gab es dort jeden Sonntagnachmittag englischen Tee mit scones. Die Sonne färbte den Saal golden, ein junger Türke sang „Sympathy Is What You Need My Love“, und ein Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen. Constantis begann plötzlich zu weinen. Der Kellner fühlte sich unwohl und sagte unvermittelt: „Ich komme auch aus Karpass.“ Ich verlangte, obwohl ich kaum Alkohol trinke, einen Alexander-Cocktail.

In den folgenden Tagen bildeten sich kilometerlange Autoschlangen vor dem Übergang Ledra Palas. Familien verbrachten die Nacht im Auto. Etwa 300000 Menschen gingen auf die andere Seite der Insel. Das Fernsehen berichtete von alten Bekannten, die sich um den Hals fielen, von jungen türkischen Zyprioten, die nach Ayia Napa zu Konzerten pilgerten. Meistens endeten diese Begegnungen mit einem großen Essen, zunächst im Norden, in der nächsten Woche im Süden. Die Grenze ist eine Zeitmaschine. Durch sie werden die griechischen Zyprioten in ihre Vergangenheit, die türkischen Zyprioten aber in ihre Zukunft geschleudert. Die einen sehen, was bisher nur Erinnerung war – die anderen, was sie aus der Armut und der von einer korrupten Regierung bewirkten politischen Isolierung erlösen kann.

Vor der Grenzöffnung demonstrierten 80000 von 160000 türkischen Zyprioten für ein vereinigtes Zypern. Die griechisch-zypriotische Regierung wurde jedenfalls überrascht und verlangte, den türkisch-zypriotischen Behörden keine Pässe vorzuzeigen, weil das die Anerkennung des „Pseudostaates“ bedeute. 200000 griechische Zyprioten kümmerten sich nicht darum. Inzwischen können türkische Zyprioten im Süden arbeiten und in die Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung einzahlen. Die erste gemeinsame politische Organisation von griechischen und türkischen Zyprioten mit dem Namen „Lösung jetzt“ ist gegründet worden. Das Osterfest verbrachten wir zum ersten Mal ohne rote Eier und Osterkuchen. Wir hatten keine Zeit dafür. Unsere Gedanken waren woanders.

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