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Kultur: In Graz ist man der Hölle nah

Das Avantgarde-Festival ist bekannt für seine Skandale. Doch in diesem Jahr läd die zeitgenössische Kunst zu vergleichsweise ruhigen Entdeckungen einAndreas Krieger Am schönsten ist Österreichs zweitgrößte Stadt, wenn sich die Bäume am Schloßberg gelb färben und die Luft frischer durch die engen Gassen weht.

Das Avantgarde-Festival ist bekannt für seine Skandale. Doch in diesem Jahr läd die zeitgenössische Kunst zu vergleichsweise ruhigen Entdeckungen einAndreas Krieger

Am schönsten ist Österreichs zweitgrößte Stadt, wenn sich die Bäume am Schloßberg gelb färben und die Luft frischer durch die engen Gassen weht. Dann findet der Steirische Herbst statt, ein Festival zeitgenössischer Kunst, das auch die Disziplinen Musik, Literatur und Theater umfaßt. Mit 40 Millionen Schilling (rund 5,5 Millionen Mark) ist das Budget ziemlich klein. "Das Bühnenbild der Bregenzer Festspiele allein kostet mehr als der gesamte Herbst", sagt Intendantin Christine Frisinghelli.

Und doch konnte sie in diesem Jahr mehr als 600 Künstler für mehr als 30 Projekte mobilisieren. Das Festival ist seit seiner Gründung 1968 die Leistungsschau geblieben, auf der von den Grazer Galerien und Bühnen bis zu den Kunsthäusern der gesamten Steiermark wirklich alle mitmischen wollen. In den vergangenen Jahren zogen Namen wie Botho Strauß oder Christoph Schlingensief die Aufmerksamkeit ins "Grazer Bermuda-Dreieck" (Peter Weibel). Der Massengeschmack aber wurde nie goutiert. Und das, obwohl Graz als Hochburg der Konservativen gilt. Vielleicht liegt es gerade an dieser Reibung, dass sich das Neue hier präziser als anderswo herausschält.

Diesmal ist diese Stadt der Hölle ganz nahe. Im Gegensatz zu früheren Jahrgängen gibt es kein Thema, doch man hätte das Festival gut unter das Motto "Die Hölle - das sind wir" stellen können. So wurde in der Oper eine blasphemische Passionsgeschichte gespielt, in der Literatur und Musik gab es viel Teuflisches und nichts zu lachen, eines der vielen Symposien beschäftigte sich gar ausschließlich mit dem Element Feuer und die meisten Ausstellungen zeigten schlichtweg die Hölle auf Erden.

In seinem Trickfilm "Ubu Tells The Truth" demonstriert der Südafrikaner William Kentridge, wie Menschen über Kopf aufgehängt, erschossen oder wiederholt in die Luft gejagt werden, dass nicht mal Staub von ihnen übrig bleibt. Es ist nur einer von einem knappen Dutzend Filmen, die bei der Kentridge-Retrospektive in der Neuen Galerie präsentiert werden und die sich mit den politischen Ereignissen in Südafrika auseinandersetzen.

Die Hülle des Menschen untersucht die Ausstellung "Der anagrammatische Körper", die Peter Weibel in der Kunsthalle von Mürzzuschlag eine Autostunde von Graz entfernt mit prominenten Beispielen bestückt hat. Umfangreich dokumentiert die Schau, wie sich das Bild vom Körper im Zeitalter der Medien neu definierte. So wie bei einem Anagramm aus derselben Buchstabenmenge immer neue Wörter entstehen, so werden in der Kunst dieses Jahrhunderts die Organe des Körpers als Bausteine für neue Körper verwendet. In der direkten Gegenüberstellung wird deutlich, wieviel Cindy Shermans Plastikpuppen mit Hans Bellmers surrealistischer Gliederpuppe aus den Vierzigern zu tun haben, wie oft der Körper im Laufe dieses Jahrhunderts, beginnend bei den Fotomontagen von John Heartfield oder Claude Cahun, künstlerisch zerlegt und re-kombiniert wurde, frei nach Günter Brus: "Kunst ist eine Änderungsschneiderei. Abgetragenes wird neu arrangiert"..

Körperlichkeit und Individualität im Verhältnis zur Gesellschaft ist auch das Thema von "Telling Tales", einer Werkschau im Grazer Künstlerhaus, die einen Überblick über die australische Gegenwartskunst wagt. Untersucht wird der Umgang mit dem Trauma eines Landes, das die jahrhundertelange Unterdrückung der Aborigines nicht verarbeitet hat. Diese Werke sind weltweit exportfähig, weil sie halten, was der Titel der Ausstellung verspricht: Sie erzählen eine (Kunst-)Geschichte.

Darin scheitert das von Gerd Kühr im Auftrag der Grazer Oper komponierte Musikdrama "Tod und Teufel", für die Peter Turrini sein gleichnamiges Theaterstück zum Libretto eingedampft hat. Warum dieses Werk bei seiner Uraufführung in Wien anno 1990 zum Skandal wurde, lässt sich nur durch die radikale Religiosität der Österreicher erklären. Neun Jahre später wirkt das Passionsspiel nicht provozierend, sondern plakativ. Ein Pfarrer Christian Bley flieht in die Stadt, um die Sünde zu suchen, und findet sie in der schlauchbootgroßen Gummivagina einer Arbeitslosen.

An richtige Heilige erinnert dagegen das knappe Dutzend Autoren, das im Rahmen der Reihe "mundräume.sendeflächen" in den frühen Abendstunden auf das Dach des Shopping Center West steigen. Die blaue IKEA-Leuchtschrift von der nächsten Halle strahlt wie ein Jesus-Schein über den Dichtern, wie sie da so stehen, rezitieren, frieren. Der Dichter als Alleinunterhalter: In jeweils 7 Minuten 30 Sekunden wird von "der Wippe des Buckels von Gustavo" (Gundi Feyrer), dem "Rosenkohl an der Bahntrasse des Nahverkehrsverbundes" (Rolf Persch) und "alla-li-alla-lü-alla-lei" (Sabine Scho) anderen Dingen erzählt. Dass die Berliner Band "to rococo rot" in der selben Nacht ebenfalls im Rahmen der Literaturreihe auftritt, ist nur konsequent. Schließlich charakterisiert das Trio seine Arbeit als "Dinge aufschreiben, ohne Schriftsteller zu sein".

Der Steirische Herbst ist ein Festival der Entdeckungen: Sabine Heines minimalistischer Eingriff in das barocke Treppenhaus des Minoritenklosters; Erik Rockenschaubs videographierte Sisyphos-Fantasien in der Minoritengalerie; die "Dokumentarische Dialektstudie II", mit der Norbert Brunner und Michael Schuster fotografisch und akustisch den Verlauf einer Landschaft vom Trentino bis nach Bayern nachzeichnen; Im direkten Kontrast dazu die Videoinstallation "Cross Gender/Cross Genre" von Mike Kelley, die im Palais Attems die Hippie-Zeit aufleben lässt; statt lauten Skandalen gibt es in diesem Jahr leise Kunst. © 1999

Andreas Krieger

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