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Kultur: In Schnulze jubilo

Unterm Weihnachtsbaum singen? Unbedingt. Aber wie – und mit wem? Ein festlicher Hörsturz

Neulich war ich mit Freunden in Flensburg. Es war nett dort, die Altstadt, der Weihnachtsmarkt mit guten Bienenwachskerzen und der schnucklige Hafen. Nach der Besichtigungstour waren wir rechtschaffen erschöpft und kehrten in der maritim-weihnachtlich geschmückten Restauration „Bellevue“ ein, um eine landestypische Fischsuppe zu konsumieren. Kaum hatten wir Platz genommen, setzte Musikberieselung in nicht geringer Lautstärke ein. Da wir Advent hatten, war die Wahl des Wirts auf Wolfgang Petrys CD „Freudige Weihnachten“ gefallen.

Ich weiß nicht, ob Sie diesen Sänger kennen. Sein Stern – um in der Weihnachtsbildlichkeit zu bleiben – begann in den Siebzigerjahren mit „Sommer in der Stadt“ zu leuchten, und obwohl die Schlagergeschäfte bald darauf flau und flauer wurden, schaffte er es, sich mit Freundschaftsbändern am Handgelenk und Wuschellocken auf dem Kopf zu behaupten und unerklärliche Plattenerfolge zu landen. Seine Fans schwören bis heute auf ihren Kumpel Wolle, denn „er ist einer wie wir“. Was die Sache nicht besser macht: Einer von der Sorte hätte uns völlig gereicht.

Petrys „Freudige Weihnachten“ ist, sagen wir es offen, die denkbar grauenvollste Zusammenstellung von Festliedern. Von einem immergleichen „fetzigen“ Rhythmus begleitet, singt Petry ohne Schamgefühl „Alle Jahre wieder“ und „Süßer die Glocken nie klingen“, quält sich trotz offenkundig unerwiderter Liebe zu Fremdsprachen durch „Feliz Navidad“ oder „White Christmas“ und behauptet im Booklet frech, die Melodien zu „O du fröhliche“ oder „Leise rieselt der Schnee“ seien von ihm selbst und seinen Kumpanen erdacht.

Die musikalisch angereicherte Flensburger Mittagsstunde ließ mich nachdenklich zurück. Wieder einmal kam mir der Gedanke: „Früher hätte es das nicht gegeben.“ Und ich begann, über das Weihnachtsfest bei meinen lieben Eltern nachzudenken, das ganz in der Tradition sich nach Plan wiederholender bürgerlicher Zusammenkünfte stand. Weihnachten, so denken die meisten, sei ein urdeutsches und uraltes Fest, das die Germanen schon in ihren Steinhütten mit Baum und Karpfen begangen hätten. Nichts da: Erst das Bürgertum des 19. Jahrhunderts schuf sich nach und nach jene klar definierten Abläufe, die für die kommenden Generationen den „alljährlichen Knotenpunkt in der Lebensgeschichte“ (Doris Foitzik) bildeten. Der Weihnachtsabend zelebrierte den Zusammenhalt der Familie – und spielt deshalb heute vor allem in amerikanischen Romanen wie Jonathan Franzens „Korrekturen“ oder Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ eine wichtige Rolle –, machte es möglich, neues Selbstbewusstsein zur Schau zu stellen, und lieferte Erziehungsberechtigen eine gute Gelegenheit, ihre pädagogischen Maximen anzuwenden.

In diesem Ritual durfte der gemeinschaftliche Gesang nicht fehlen. Da man sich niederlassen soll, wo gesungen wird, lässt sich in kulturbeflissenen Haushalten Moral, gutes Sozialverhalten und Bildung schon durch den Vortrag weihnachtlicher Weisen demonstrieren. In Thomas Manns „Buddenbrooks“ setzen die etwas steifen Feierlichkeiten mit dem Chorgesang „Tochter Zions, freue dich“ ein, was die Anwesenden dazu bringt, sich zu besinnen und die Alltagsnöte vorübergehend zu vergessen. Auch in Heinrich Bölls Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ nötigt Tante Milla ihre Lieben, die aus therapeutischen Gründen täglich stattfindenden Weihnachtsabende nicht nur mit Marzipan und Tannenduft, sondern auch mit dem (zunehmend gequälteren) Absingen von „O Tannenbaum“ auszugestalten.

Weihnachten ohne Gesang ist wie Gans ohne Klöße. Auch bei uns zu Hause war das nicht anders, allerdings waren die Begabungen hierfür innerhalb meiner Familie sehr unterschiedlich ausgeprägt. Nirgendwo wurden im Deutschland nach 1945 „Stille Nacht“ und das textlich schwierige „Es ist ein Ros entsprungen“ furchtbarer als von meinem Bruder und mir interpretiert. Auch die gelegentlichen Bemühungen meiner Schwester, uns mit Blockflöte oder Gitarre zu übertönen, änderten an dieser Kakophonie wenig. Dennoch wäre es uns nie in den Sinn gekommen, die Gesangseinlage an Heiligabend einfach ausfallen zu lassen. Hier mussten alle durch; erst danach durfte das weiße Baumwolltuch vom Wohnzimmertisch entfernt werden, und die heiß ersehnte Bescherung konnte beginnen.

Meine Mutter litt unter den mäßigen Sangesqualitäten ihrer Söhne und legte großen Wert darauf, alsbald künstlerisch wertvollere Plattenspielerklänge nachzulegen. Zuerst ganz alte Aufnahmen, dann Hermann Prey und irgendwann sogar Freddys „Weihnachten auf hoher See“, eine Einspielung, die uns in Württemberg Lebenden besonders apart vorkam. Damals in der Wirtschaftswunderzeit griff das Übel allmählich um sich; Plattenproduzenten begannen ihre Schützlinge dazu zu bringen, permanent Weihnachtslieder aufzunehmen. Peter Alexander, Roy Black, Bernd Clüver, Andrea Jürgens, Nicole, Die Flippers, Heintje ... sie alle hielten und halten es für eine Notwendigkeit, den Fans „Ihr Kinderlein kommet“ ins Ohr zu säuseln. So verliehen sie der Rührung zwischen Krippe und Lametta etwas Künstlich-Kommerzielles.

Bereits 1965 notierte der Volkskundler Hermann Fischer diese Veränderung in seiner bedeutenden Arbeit „Volkslied, Schlager, Evergreen. Studien über das lebendige Singen aufgrund von Untersuchungen im Kreis Reutlingen“, wenngleich noch mit optimistischem Unterton: „Vielleicht regt das Abhören derartiger Schallplatten eher zum aktiven Mitsingen an, dergestalt, dass dadurch nämlich eine Atmosphäre und eine feierliche Stimmung geschaffen wird, welche die Hörer zum aktiven Mitsingen veranlasst.“

Bei uns zu Hause hat das nicht funktioniert; Hermann Prey und Freddy blieben Hintergrundbeschallung, während ich mich nicht singend um Tipp-Kick und die neue Carrera-Bahn kümmerte. Und es ist kaum anzunehmen, dass deutsche Familien im Wedding oder in Harburg heutzutage durch Wolfgang Petrys „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ zu gesanglicher Aktivität angeregt werden. Wenn schon Background-Stimulanzien erforderlich sind, dann würde ich heute Hermann-Prey- oder RudolfSchock-Aufnahmen bevorzugen. Wegen der Erinnerungsseligkeit und so. Man weiß das Gute seiner Kindheit oft erst im Nachhinein zu schätzen.

Für die Bürger in den neuen Bundesländern empfiehlt sich dagegen der Rückgriff auf jene Platte, die viele von ihnen einst treu begleitete. „Weihnachten in Familie“ heißt diese zum Glück immer noch zu erwerbende CD, auf der Frank Schöbel mit seiner damaligen Gattin Aurora Lacasa und ihren liebreizenden Kindern Odette und Dominique zu hören ist. Das war ein Klassiker zu DDR-Zeiten, der die vom „Neuen Deutschland“ schon 1951 formulierte Mahnung, die „deutschen Weihnachtslieder“ dürften nicht zu „amerikanischen Schlagern entwürdigt“ werden, beherzigte. Familie Schöbel/Lacasa singt, untermalt vom Kinderchor der Musikschule Berlin-Lichtenberg, auf altmodische Art und Weise alles, was auch im Sozialismus zum Weihnachtsbrauchtum gehörte. Was mir, ehrlich gesagt, besser gefällt als Wolfgang Petrys Einheitssoße. Noch ohrenbetäubender ist übrigens Tom Astors Sampler „Country Weihnachten“, aber darüber reden wir nächstes Jahr.

Bis dahin sind wir vielleicht auch weitergekommen in der entscheidenden Frage: Was um Himmels willen haben Schnulzen mit Weihnachten zu tun? 84,9 Prozent aller Schlager handeln, wie ein Doktorand einmal errechnet hat, von der Liebe, und womit könnte man also Weihnachten, das Fest der Liebe, besser untermalen? Ein „Festival der Liebe“ (Jürgen Marcus, unvergessen) lässt sich überall ausrichten. Auch im hellen Schein der Bienenwachskerzen, unterm Christbaum.

Rainer Moritz

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