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Kultur: In Schokoladengewittern

Kritik ist die schönste Drecksarbeit der Welt – beim Wettbewerb um den Bachmann-Preis in Klagenfurt fand sie würdige Gegner

Wenn sich die Kritiker jedes Jahr wieder in Klagenfurt die Ärmel hochkrempeln und sich ihnen die Kameraaugen wie Fleisch fressende Pflanzen entgegenrecken, dann wissen sie nur allzu gut: Kritik ist Drecksarbeit. Und gefährlich. Der erste deutsche Popautor, Goethe, wollte die Rezensentenhunde am liebsten totschlagen. Wenn er milder gestimmt war, formulierte er weniger blutrünstig, aber genauso bissig: „Die Kritik erscheint wie Ate: Sie verfolgt die Autoren, aber hinkend.“ Das bedeutet: Die Kritik hat für das literarisch Neue – wenn es wirklich neu ist – noch keine Kategorien. Sie muss sie erst entwickeln. Und sie hinkt wie Ate, die Göttin der Verblendung, hinter den Autoren her, weil sie den Apparat des literarisch Vergangenen, den Kanon, mitschleppt.

In Klagenfurt ist der Abstand zwischen kritischem Subjekt und Objekt am kürzesten. Die Köpfe stoßen direkt auf die Bücher – und die ganze deutschsprachige Welt kann im Fernsehen zugucken und zuhören, wie das aussieht, wie das klingt. Jedem der neun Jury-Kritiker ist klar, dass er während der vielen Stunden mal etwas Dummes sagen wird. Das ist das Risiko. Und: Ist der Autoren-Jahrgang mau, ist die Jury schuld. Dann hallt es ganz martialisch im deutschsprachigen Feuilleton: Schafft Klagenfurt ab, radiert es aus, auf dass es woanders neu und herrlich auferstehe. Aber Klagenfurt ist zäh. Es lockt jedes Jahr mit universalen Konstanten: Radeln zum Bad im Wörthersee, Fischessen im „Maria Loretto“, exzessives Abhotten im „Schottch-Club“ und Literaturklatsch, viel Literaturklatsch.

Die Unkenrufe werden dieses Jahr jedoch kaum hörbar sein. Denn „heuer“ war ein guter Jahrgang, der Beste seit langem. In den letzten Jahren gab es einzelne große Texte: von Georg Klein, von Michael Lentz, von Feridun Zaimoglu. Aber diesmal, bei den 28. Tagen der deutschsprachigen Literatur, konnten die Juroren-Kritiker ihr Glück kaum fassen. Obwohl gleich fünf Preise zu vergeben sind – vom Bachmann-Preis mit 22500 Euro bis zum Publikumspreis mit 5000 Euro –, waren es nicht genug. Alle zehn Autoren, die am Ende auf der Shortlist der Jury standen, hätten, über die letzten Jahre verteilt, Preise bekommen.

Gleich die Startnummer zwei, der Berliner Maler und Autor Wolfgang Herrndorf, trieb die kritischen Messlatten so hoch, dass man später leider nicht mehr so genau wusste, wo man sie hingehängt hatte. Das ist das Schicksal der Früh-Leser. Herrndorf bekam schließlich nur den Publikums-Preis, der per E-mail ermittelt wird. Nur ein Trostpflästerchen – denn sein Text „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ hätte unter Normalbedingungen mindestens einen bis anderthalb Bachmannpreise verdient. In einer leisen, unprätentiösen, lakonischen, intensiven Sprache schildert er den Spätnachmittag eines Melancholikers um die Dreißig auf dem Balkon der leer geräumten Nachbarswohnung. Ein pubertierender Rüpel aus dem Viertel gesellt sich dazu. Es wird getrunken und geraucht. Man beobachtet den Mond. Der Dreißigjährige dekonstruiert grausam das Weltbild des Jungen. Aber er bringt ihn zum Weiterdenken, so wie Samuel Becketts Moran seinen Sohn, den er aus Erkenntnisgründen lehrt, an die Höllenqualen zu glauben. Auf ihre Weise erleben beide Figuren einen Moment transzendenter Erhabenheit. Und das Ganze funktioniert, ohne im Geringsten kitschig zu wirken.

Herrndorf, Jahrgang 1965, war die eigentliche Entdeckung des Wettbewerbs. Sein Schreiben erweckt den Eindruck, es sei ganz dicht an der Gegenwart, was immer das heißen mag, und trotzdem angeschlossen an die Literaturgeschichte: an Kafka, Beckett, Carver und die deutsche Popliteratur.

Doch Herrndorfs Text war zu leise, um sich gegen die 10000 Watt zu behaupten, mit denen der letztlich zum Bachmann-Preisträger gekürte Uwe Tellkamp in die am Freitagnachmittag leicht ermüdeten Hirne der Jury brüllte. Zugegeben: Tellkamp, Münchner Arzt, geboren 1968 in Dresden, ehemaliger NVA-Panzerkommandant, ist eine eminente literarische Begabung. Er hat Rhythmus, Fantasie, literarische Bildung – und einen Hang zum CSU-mäßigen Outfit, das im Literaturbetrieb höchst ungewöhnlich und erfrischend ist.

Aber sein Romanauszug „Der Schlaf in den Uhren“ gewann nur deshalb, weil er bei der Jury – neben dem Erfrischungseffekt – literarische Elterninstinkte auslöste: Der dichte Bewusstseinsstrom einer Figur, die in der Dresdner Straßenbahn sitzt und eine ganze Kaskade von Tunnelblicken in die Geschichte erlebt, ist von Hofmannsthal-Zitaten aus dem Rosenkavalier durchsetzt, die ein Lämpchen blinken lassen: Achtung! Hier geht es um Sein und Zeit. Da diese Cento-Technik in der Gegenwartsliteratur unüblich ist, befand die stolze Eltern-Jury: Toll, was unser Liebling gelesen hat, toll, wie er sich für Geschichte interessiert. Denn heute, hört man, schwinde ja (literar-)historisches Bewusstsein.

Als dann auch noch eine Handgranate in einer Schokoladenfabrik des Nachkriegs-Dresden explodiert, war man gänzlich überzeugt, denn auch im Rosenkavalier kommt Schokolade vor. Die Schokolade spritzt in Tellkamps James-Joyce-Claude-Simon-Pastiche über russische Soldatenköpfe und der Jury schmeckte das ganz vorzüglich. Im wohligen Schokoladengewitter übersah man alle wuchernden Stilblüten: „meergrüne Schallplatte in der Nacht, schwappende Systole des auf dem Plattenteller schwimmenden Lichts...“ Lecker. Bestnote. Setzen. Tellkamp hat viel auf dem Kasten, nur hat er keinen Geschmack. Und so klingt seine Literatur leider wie Phil Collins goes Classic.

Aber verblendet, wie Goethes Ate, war die Jury ganz und gar nicht. Eher kurzzeitig geblendet. Denn nach dem Abtupfen der Schokolade sah sie durchaus klar: Der zweite, der „Preis der Jury“, ging an den Berliner Autor Arne Roß, Jahrgang 1966, für seinen Romanauszug „Pauls Fall". In einer Art literarischem Minimalismus schildert Roß einen alten Mann, der aus dem Fenster schaut, der vergisst, den Kuchen aus dem Backofen zu nehmen, aufsteht, sich wieder setzt, dann doch noch an den Kuchen denkt. Ein sympathischer Text in klarer Sprache von meditativer Langsamkeit. Vielleicht ein wenig brav ist diese schöne Geronto-Prosa, von der man trotzdem gerne 200 Seiten lesen würde.

Den dritten, den „3sat-Preis“, erhielt die andere Entdeckung dieses Wettbewerbs, der gebürtige Luxemburger und heutige Kölner Guy Helminger, Jahrgang 1963. Mit seinem Text „Pelargonien“ wurde endlich einmal wieder der literarische Humor Klagenfurt-preiswürdig. Die Geschichte über einen Fahrrad fahrenden Halbnarren, der gerne harmlose Passanten einen Klaps auf den Hinterkopf gibt, war so komisch, dass der Autor nicht verhindern konnte, beim Lesen einmal in schallendes Gelächter auszubrechen. Der Text hat aber auch Abgründe: Wird der Halbnarr schließlich zum Vergewaltiger? Helmingers Text ist von einer eigenartigen Lichtmetaphorik durchsetzt, die der Atmosphäre des Textes einen – man muss es so sagen – humanistischen Schein verleiht.

Der namenlose Romananfang der Kamerafrau Simona Sabato, ebenfalls in Berlin lebend, Jahrgang 1964, polarisierte die Studio-Kritiker. Jurysprecherin Iris Radisch verwarf den Text zunächst pauschal („100 Prozent Gaga“, „genauso gut könnte man das Telefonbuch rezensieren“). In der Debatte öffnete sich dann der schön-skurrile Text, der von einem kommunikativen Missverständnis zum andern mäandert. Es ist Radisch hoch anzurechnen, dass sie sich zu ihrem Irrtum bekannte und schließlich sogar für Sabatos Diskurs-Slapstick stimmte. Simona Sabato erhielt den vierten, den Ernst-Willner-Preis, dotiert mit 7000 Euro.

Nicht nur die Karrieren der fünf Preisträger dieses soliden Literaturjahrgangs werden einen Sprung machen. Viele andere Teilnehmer, die diesmal keinen Blumentopf gewannen, wird die Öffentlichkeit allmählich wahrnehmen.

Sie lebt, die deutschsprachige Literatur der Gegenwart. Und Kritik ist die schönste Drecksarbeit der Welt.

Marius Meller

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