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Auf allen Kanälen. In Norwegen zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Breivik-Prozess in voller Länge.

© AFP

Kultur: Geheimnis der Demokratie

Im NSU-Prozess zeigt sich erneut: Der deutschen Rechtskultur fehlt es an Öffentlichkeit. Skandinavien ist da weiter, Norwegen etwa findet im Breivik-Prozess zu einem inneren Frieden - gerade weil alles öffentlich ist.

Der Präsident des Münchner Oberlandesgerichts hat Presseberichten zufolge die Frage verneint, ob man sich wegen des NSU-Prozesses denn mit den Kollegen in Oslo beraten habe, die für den Breivik-Prozess zuständig waren. Man führe schließlich einen Prozess nach deutschen Regeln. Die Antwort macht deutlich, dass die deutsche Justiz aus dem Erbe des Rechtspositivismus kommt. Aber gerade der NSU-Prozess müsste auch nach anderen Grundsätzen geführt werden. Von den politischen Organen und den Verfolgungsbehörden wurden lange Zeit sehr viele Fehler begangen und die Zahl der Opfer ist zu hoch, als dass die Rechtsprechung „nur“ auf der strikten Einhaltung des Gesetzestextes basieren könnte.

Die Münchner hätten von ihren Kollegen und Kolleginnen in Oslo eine ganze Menge lernen können. Auch wenn nicht alles perfekt war, hat das dortige Prozessgeschehen doch wesentlich dazu beigetragen, dass der Rechtsfrieden in Norwegen wiederhergestellt wurde. In Oslo wurde Öffentlichkeit nicht nur formal hergestellt, sie war ein wesentliches Prinzip der Prozessführung. Vom ersten bis zum letzten Tag konnte das von einer Richterin geleitete Verfahren von der Weltpresse, den Überlebenden der Tat und den Hinterbliebenen beobachtet werden.

Auch in Oslo war der Gerichtssaal viel zu klein, es wurde in andere Räume übertragen (zumindest das wäre nach deutschem Recht möglich). Zudem zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Prozess in voller Länge, jedermann konnte sich ein Bild machen und das Geschehen verfolgen, weltweit. Lediglich einige Passagen, die den Tod oder die Verletzungen von Opfern betrafen, wurden aus Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte zurückgehalten. Viele Opfer bestanden aber gerade darauf, bei der Verlesung der sie betreffenden Ermittlungsprotokolle im Saal anwesend zu sein, die Möglichkeit wurde ihnen selbstverständlich eingeräumt.

Dass die deutsche Gesellschaft den Horror des Münchner Oberlandesgerichts vor der Herstellung einer großen Öffentlichkeit nicht teilt, weist auf eine Schizophrenie hin. Einerseits sind da der mediale Ärger über das bayerische Lotteriegericht und die Rufe nach mehr Öffentlichkeit, andererseits fürchtet die deutsche Öffentlichkeit sich vor ihr, wenn es um das sogenannte Steuergeheimnis beziehungsweise um Steuerhinterziehung geht. Dabei handelt es sich offenbar um eine heilige Kuh, die zu schlachten mit der Androhung ewiger Verdammnis geahndet wird. In Talkshows, von Politikern und Steuerfahndern wird anlässlich des Falls Hoeneß die Unverletzbarkeit der Privatsphäre in glühenden Plädoyers verteidigt. Auch hier lohnt sich der Blick nach Skandinavien, das ja immer gern zum Vergleich herangezogen wird, wenn es um Wohlfahrt, Soziales, um schulische Einrichtungen und andere nette Dinge geht. Das Steuergeheimnis existiert hier im eigentlichen Sinne nicht, trotz kleiner Unterschiede von Land zu Land. Zum einen sind alle Staatsorgane, die in irgendeiner Weise mit dem Geld der Bürger befasst sind, untereinander verlinkt: das Finanzamt, die Sozialbehörden, die Krankenkasse. Zum anderen sind die Steuererklärungen selbst im Internet für jedermann einsehbar.

In Skandinavien wurde das Öffentlichkeitsprinzip zu einem Pfeiler der Demokratie

Auf allen Kanälen. In Norwegen zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Breivik-Prozess in voller Länge.
Auf allen Kanälen. In Norwegen zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Breivik-Prozess in voller Länge.

© AFP

Das in der politischen Kultur und traditionell tief verwurzelte Öffentlichkeitsprinzip betrifft jedweden Umgang mit staatlichen Einrichtungen: die Korrespondenzen, den E-Mail-Verkehr, alles Verwaltungshandeln und, ja, die Steuererklärung. Mein Nachbar kann sie genauso lesen wie der Steuerfahnder. Hierzulande ist das unvorstellbar, man glaubt, die Wirtschaft würde zusammenbrechen und der soziale Frieden wäre dahin. Aber die skandinavischen Länder sind nicht zuletzt für ihre politisch-gesellschaftliche Stabilität bekannt, wirtschaftlich geht es ihnen auch in Zeiten der Krise vergleichsweise gut. Auch wenn ein paar Magnaten Schweden den Rücken gekehrt haben, zum Beispiel die Familie Rausing (Tetra Pak) und der Patriarch Kamprad (Ikea), nicht wegen des Öffentlichkeitsprinzips, sondern wegen der Steuerpolitik. Auch Korruption ist ein Fremdwort. Das heißt, das Öffentlichkeitsprinzip scheint weder der Wohlfahrt noch dem Wohlstand noch dem Zusammenhalt der Gesellschaften irgendeinen Schaden zuzufügen. Es wurde vielmehr zu einem wesentlichen Pfeiler der Demokratie.

Kleine Malheurs und selbstgefällige Durchgriffe bleiben die Ausnahme: 1995 kostete es eine aufstrebende schwedische Politikerin den nächsten Karriereschritt, weil sie nicht bedacht hatte, dass die Bezahlung von Windeln für ihren Nachwuchs (und zwei Stangen Toblerone) mit der dienstlichen Kreditkarte für die Öffentlichkeit einsehbar ist. Es war ein läppischer Betrag, gleichwohl wurde sie dann doch nicht Ministerpräsidentin des Landes. Nicht auszudenken, was aus der bayerischen Politik würde, atmete das seit 2006 gültige Bundes-Informationsfreiheitsgesetz auch nur annäherungsweise schwedischen Geist.

Was ist höher zu bewerten, das einkommensschützende Steuergeheimnis, die prozesskontrollierende richterliche Übersichtlichkeit (durchaus im räumlichen Sinne verstanden) oder allgemeine Wohlfahrt, Gerechtigkeit – und Steuergerechtigkeit? Die Antwort auf diese Frage erhellt die politische Kultur eines Landes. Das OLG München, der Fall Hoeneß und die Vetternwirtschaft bayerischer Landtagsabgeordneter und Regierungsmitglieder zeigen, dass auf dem Weg zu einer zivilen und gerechten Gesellschaft noch ein paar Hindernisse abzubauen sind.

Der Autor lehrt am Nordeuropa-Institut der Berliner Humboldt-Universität.

Bernd Henningsen

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