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Integration lernen. In Hermine Huntgeburths Film „Teufelsbraten“ (nach Ulla Hahns „Das verborgene Wort“) kann Hildegard (Nina Siebertz) in den 50er Jahren mit Hilfe ihrer Lehrer einer bildungsfeindlichen Familie entfliehen.

© WDR/Thomas Kost

Integration: Das Land von Hildegard und Ahmet

Wer wir sind – und wie wir es wurden: Integration gibt es, solange die Bundesrepublik besteht. Absolut alles, wovon heute die Rede ist, tauchte schon in der alten Fallschilderung "Ahmet - Geschichte einer Kindertherapie" auf.

Von Caroline Fetscher

Es nahm seinen Lauf, eines der wunderschönen Toleranzprojekte in unserem Land, gerade ein paar Wochen ist das her. Israelische, palästinensische und deutsche Kinder waren eingeladen, miteinander zu kicken, zu spielen und zu diskutieren. In der Küche achtete man auf die Speisevorschriften, damit das Essen für die Muslime halal („rein“, „erlaubt“), für die jüdischen Kinder koscher war. Nach ein paar Tagen meldeten die deutschen Kinder den Wunsch an, auch mal wieder „was Deutsches“ zu essen. Was hättet ihr denn gerne?, fragte die Leiterin. „Naja, so Döner halt, oder Pizza, eben das was wir essen!“ Den Kindern der hiesigen Gegenwart gilt das Gewohnte als das Einheimische, „das Deutsche“.

In der aktuellen Debatte um Integration tut man sich dagegen schwer zu markieren, in welches „Wir“ hinein eigentlich integriert werden soll. Solange im Vordergrund Begriffe wie „Deutschland“ statt Rechtsstaat oder „Werte“ statt Demokratie und Verfassung stehen, fehlen klare Gravitationspunkte, die das Normative markieren und Standards dessen vorgeben, was „wir“ sein soll. Seit die Rede davon ist, dass „wir“ kultursensibel mit ethnischen und religiösen Minderheiten umgehen sollten, hatte man sich um den Charakter dieses „Wir“ kaum Gedanken gemacht. Denn „wir“, das waren eben „die Deutschen“. Wer von außen kam, musste in dieses Wir hineinwachsen, um sich ihm anzugleichen.

Erstaunlich, dass es gelang, nach 1945 rund 12 Millionen aus östlichen Regionen vertriebene oder geflüchtete Deutsch-Tschechen, Deutsch-Polen und so fort in das zertrümmerte Gebiet des neu zu gründenden Staates Bundesrepublik Deutschland als gleichrangige Bürger aufzunehmen. Latent spielte dabei die Vorstellung des ius sanguinis mit: Wir, das war „unser Blut“. Die Ost-Zuwanderer, deren Kinder zunächst auf Schulhöfen verhöhnt und deren Familien oft als ungeliebte Gäste bei Einheimischen zwangseinquartiert wurden, galten als „unsere“ Verwandten. Wohl oder übel musste also für sie Platz gefunden werden. Von diesem Konzept profitierten später auch die etwa vier Millionen sogenannten „Spätaussiedler“ aus der einstigen Sowjetunion. De facto Wirtschaftsflüchtlinge reisten sie auf dem Ticket des „Blutes“ ein in das von Wohlstand geprägte Territorium ihrer Vorfahren.

Die Ost-Vertriebenen blieben nicht die einzige Großgruppe, die die junge Republik eingliedern musste. Abertausende ehemaliger NSDAP-Mitglieder, viele darunter der Demokratie feindlich gesonnen, wurden mit den Jahren und mit der Hilfe alliierter Entnazifizierung einigermaßen integriert. Auch der deutsche Adel musste sich an die bürgerliche Gesellschaft und deren Konditionen erst gewöhnen, wobei ihm Grundbesitz und informelle Netzwerke über viele Hürden hinweghalfen. Ihre Parallelgesellschaft war auffällig patriarchal und clan-orientiert, kam aus ländlichen Regionen, bevorzugte endogame Eheschließungen und war nur in geringem Maß an reguläre Erwerbsarbeit gewohnt. Konkrete Eingliederungshilfen wurden selten geboten, und die Gruppe kann beanspruchen, im Negativen wie im Positiven Diskriminierung erfahren zu haben. Manche behielten kulturelle Eigenheiten bei, etwa das patrilineare Prinzip im Erbrecht oder die Bestattung auf privaten Gräberfeldern. Gleichwohl ist die Integration insgesamt gelungen.

Schon DDR-Flüchtlinge mussten integriert werden

Integriert werden mussten schon früh DDR-Flüchtlinge, für die es Auffanglager, Empfangsrituale, Starthilfen gab. Kaum waren diese Gruppen versorgt und tauchten unauffällig im „Wir“ unter, dem imaginären Gefäß der Integration, da spalteten sich signifikante Gruppen aus dem Gesamt-Wir heraus, bezeichneten sich explizit als „außerparlamentarische Opposition“ und schienen auf keine erdenkliche Weise zähmbar und integrierbar zu sein. Dass aus einem der ihren, einem Steinewerfer und Staatsfeind, eines Tages ein Außenminister mit Dreiteiler und Limousine werden würde, der auf Steuerkosten in Pension geht, hätte niemand vorauszusagen gewagt.

Viele der Staatsfeinde von damals wurden auch zu klassenspezifischen Integrationsexperten. Als Lehrer halfen sie, den Nachwuchs der bildungsfernen Schichten, etwa im katholischen Arbeitermilieu, auf weiterführende Schulen zu hieven, wovon Ulla Hahn in ihrem Roman „Das verborgene Wort“ mit unvergleichlicher Intensität erzählt. Getrieben vom Hass auf die lesende, schreibende Tochter Hildegard schlägt dort der Vater dem Kind das Buch ins Gesicht, drückt ihm das Gesicht in die heiße Suppe, zertritt Brille und Zahnspange als Insignien einer feindlichen, gottlosen Welt, die sich „für was Bessres“ hält.

Nach 1989 kam ein weiterer Schub der Integrationsarbeit auf das Land zu. Ehemalige Mitarbeiter aus Institutionen der DDR sollten quasi über Nacht umtrainiert werden, um neue, ihnen angemessene Aufgaben in einer Demokratie mit freier Marktwirtschaft zu übernehmen – eine gigantische Aufgabe, begleitet von Parteigründungen, Gerichtsprozessen, Umschulungen und vielem mehr. Viele Prozesse der Integration zeitigten erstaunliche Resultate, ein Beweis ist die aktuelle, konservativ-liberale Regierung: Ein ehemaliges FDJ-Mädchen ist Kanzlerin, ein Schwuler Außenminister, es gibt einen gehbehinderten Finanzminister, ein aus Vietnam stammendes Adoptivkind als Gesundheitsminister – voilà!

Unauffällig aber wuchs neben all diesen Entwicklungen die Zahl der Neubürger, die man dem Wir so wenig zuordnete, dass es kaum besondere Integrationsangebote für sie gab, geschweige denn Demokratieschulungen oder Trainingskurse, die ihnen das Ankommen im Aufnahmeland erleichtern könnten. Gast-Arbeiter, ab 1955 gezielt angeworben, um die bei Vollbeschäftigung steigenden Löhne zu drücken, landeten mit ihren Koffern und Bündeln auf den Bahnsteigen, wanderten an die Fließbänder und sollten von denselben Bahnsteigen ein paar Jahre darauf wieder abreisen. Dann aber blieben viele. Sie machten Döner und Pizza heimisch und bildeten Sub-Communities, Parallelgesellschaften genannt.

1973 versuchte die Regierung durch den „Anwerbestopp“ einen Riegel vorzuschieben. Vergebens. Denn zuwandern konnten nun nur noch Verwandte; Großfamilien und Ghettobildung waren die Folge. Wer die Probleme verstehen will, die ein Kind in diesen Jahren in der Schule bekam, braucht nur „Ahmet“ zu lesen, die „Geschichte einer Kindertherapie“ aus den siebziger Jahren mit dem Untertitel „weil ich nicht weiß, wohin ich gehöre“, veröffentlicht 1981. „Ich wünsche mir, dass Ahmets Geschichte viele Menschen in unserem Land aufrüttelt und dazu bewegt, diesen Kindern auf ihrem Weg in die Zukunft zu helfen“, schrieb die Autorin Anneliese Ude-Pestel im Vorwort. Mag das Buch aus heutiger Perspektive teils naiv und betulich klingen, es ist ein Zeitdokument, das hellhörig machen muss.

Denn absolut alles, wovon heute die Rede ist, tauchte in dieser alten Fallschilderung schon konkret und krude auf. „Ahmet“, ein türkischer Schüler in Deutschland, ringt mit Spracharmut, Trotz, Angst, Abschottung und Aggression in einer Familie, in der ihm niemand auch nur bei einem Satz bei den Hausaufgaben assistieren kann. Der unempathischen Gesellschaft um ihn herum fehlte es an der Integrität, die Tausende von Ahmets und Fatimas zu integrieren, das heißt, Chancengleichheit, Barrierefreiheit für sie herzustellen, sie aus den Ghettos ihrer unaufgeklärten Familien zu holen, so wie einst die Arbeiterkinder aus ihren Milieus.

Aufschlussreich am Begriff der Integration ist ja dessen Bezug zum Begriff der persönlichen Integrität. Die stellt jemand von innen her, durch Selbsterkenntnis, indem er verschiedene, auch weniger sympathische Anteile seiner Person anhand des eigenen Ethos prüft und mittels Ich- Stärke annimmt. Genau das ist die Aufgabe, die die Gesellschaft jetzt wahrnehmen muss: Integer werden, als Voraussetzung dafür, einen massiven Umbau der Bildungsinstitutionen und Behörden zu planen, der Chancengleichheit gewährt. Daran, wie viel dafür ausgegeben wird, wird sich die Integrität messen lassen müssen.

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