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Ein Bild aus sonnigen Tagen. Frank Castorf 2006 vor seinem Haus, der Berliner Volksbühne.

© dpa

Intendant der Berliner Volksbühne wird 65: Frank Castorf, der Alterswilde

Konsens ist öde. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf setzt lieber auf Rausch, Exzess - und Theaterkrach. Am Sonntag wird er 65.

Man kann Frank Castorf eine Menge vorwerfen, und viele Menschen im Kulturbetrieb tun das auch seit Jahrzehnten, aber eines bestimmt nicht: dass der Mann zu übertriebener Höflichkeit oder falscher Bescheidenheit neigen würde. Da hält er’s mit Goethe, Faust zwo: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“. Kürzlich hat der Schauspieler Ulrich Matthes den Intendanten der Volksbühne mit Picasso verglichen. Und als die „SZ“ Castorf dann im Interview fragte, ob er sich davon geschmeichelt fühle, sprach er den schönen Satz: „Och, irgendwie hat das seine Berechtigung.“ Es gibt langweilige Zeitgenossen. Es gibt unterhaltsame. Und es gibt Frank Castorf.

Der Berliner Eisenhändlersohn wird am heutigen Sonntag (17. Juli) 65 Jahre alt, und einen ziemlich großen Teil davon hat er im Theater verbracht. Man muss jetzt nicht in den Jubiläumsfuror verfallen und wieder mal all seine Leistungen referieren oder die revolutionäre Bedeutung seines Schaffens für das deutschsprachige Theater seit den Neunzigern preisen. Was man aber feiern sollte, ist die vitale Widerständigkeit, die sich Castorf bewahrt hat – oder die er wiedergefunden hat, je nach Perspektive.

Denn es gab ja auch Krisenjahre, den Stillstand, die Zeiten, in denen auch diese Zeitung den Regisseur endgültig auf der „Rue de la merde“ wähnte (mit „Nord“ nach Céline).

Sein Credo: Konflikt ist notwendig für das Theater

Ist passé. Interessiert keinen mehr, Castorf am allerwenigsten, den interessieren andere Menschen und ihre Meinungen eh nicht sonderlich. Sagt er selbst. Er sagt auch: „Konflikt ist notwendig für das Theater.“ Sein Arbeitscredo. Als ihm im Frühling der Große Kunstpreis der Stadt Berlin in der Akademie der Künste verliehen wurde, hat er dazu mal eben die Historie aufgerollt: „Das ganze Theater fing an, als vor über 2500 Jahren in der Polis zwei Menschen, die nicht der gleichen Meinung waren, die Möglichkeit bekamen, ihren Konflikt vor Juroren und Richtern auszukämpfen.“

Kampf findet er gut. Castorf ist ein Harmonie-Dissident, den aus gutem Grund die Konsenssoße anödet, die landauf, landab auf den Bühnen angerührt wird. Er steht stattdessen für Maßlosigkeit und Exzess und Rausch, vor allem, wenn er sich mit seinen geliebten Russen in die Depression schraubt oder auf Sinnsuche geht – siehe zuletzt die anbetungswürdige „Karamasow“-Inszenierung in der Sarkophagbühne des verstorbenen Bert Neumann.

Pünktlich zu Castorfs halb rundem Geburtstag ist jetzt im Verlag Theater der Zeit auch ein Arbeitsbuch mit dem eingängigen Titel „Castorf“ erschienen. Das würdigt den Regisseur als Weltreisenden zwischen Südamerika, Asien, Russland sowie Recklinghausen und versammelt eine Reihe lesenswerter Beiträge. Darunter den ehrfürchtigen Bericht des taiwanesischen Regisseurs Hung Hung über ein Dostojewski-Gastspiel in Taipeh („Ein Erdbeben“) oder den Essay des Kroaten Ivica Buljan über Castorfs Einfluss auf das post-jugoslawische Theater („unermesslich“). So viel zur Internationalität der Volksbühne, über die zuletzt ja wieder so viel geredet wurde.

Gedöns-Meister Chris Dercon? Da läuft einer wie Castorf erst recht zu Hochform auf

Was nur wenige wissen: die Berufung von Chris Dercon zum nächsten Volksbühnen-Chef war tatsächlich ein heimliches Geschenk der Berliner Kulturpolitik an Frank Castorf. Man wollte ihm einen Nachfolger vor die Nase setzen, der für alles steht, was er verachtet: Marktgängigkeit. Kuratoren-Gedöns. Die Ausgestaltung Berlins zum Erlebnispark. Einzig, damit Castorf sich daran reiben und noch einmal zu Hochform auflaufen kann.

Und das funktioniert prächtig. Der scheidende Intendant wird sein Haus noch eine Spielzeit lang als Piratensender im kapitalistischen Feindesland funken lassen, den Berlinern einen saftigen „Faust II“ vor den Latz knallen und sich für seine alterswilden Arbeiten feiern lassen. Och ja, irgendwie hat das seine Berechtigung.

„Castorf. Arbeitsbuch 2016“. Hrsg. von Dorte Lena Eilers, Thomas Irmer und Harald Müller. Verlag Theater der Zeit, 184 Seiten, 24,50 Euro.

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