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Schweizer Russe. Michail Schischkin hat lange an einer Empfangsstelle für Asylbewerber im Grenzort Kreuzlingen gearbeitet.

© Kevin Mertens

Internationaler Literatupreis: Michail Schischkin: Ein Sturm weht vom Paradiese her

Mit der Geschichte im Gepäck: Für seinen Roman "Venushaar". Michail Schischkin erhält den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt Berlin. Ein Porträt des in der Schweiz lebenden Russen.

Lesen ist wie eine Bluttransfusion, sagt Michail Schischkin: Ein Buch kann Leben retten, aber auch töten, wenn sich die Blutgruppen von Autor und Leser nicht vertragen. Und er erzählt von einer Lesereise ins russische Provinznest Grjasowez, wo sich auch nach dem Fall der Sowjetunion nichts geändert hat – die gleiche Kluft zwischen offizieller Lüge und Alltagsrealität, die gleiche Armut, die durch das Geprotze der neuen Machthaber nur noch erniedrigender geworden ist. Wer in Grjasowez zur Autorenlesung in die Stadtbibliothek strömt, für den kann ein Buch in der Tat lebensrettend sein, meint Schischkin. Für Leute wie sie schreibt er seine Romane: für den Arzt, den Lehrer, die Bibliothekarin eines Grjasowez.

Schreiben als Blutspende fürs leidende Volk – für westliche Ohren mag das pathetisch klingen. In Russland hat solch literarischer Heilungsanspruch Tradition. Wo der Staat zum Schinder der eigenen Bevölkerung wurde, blieb es den Schriftstellern überlassen, die Wunden zu behandeln. Für ihren diagnostischen Scharfblick wurden sie ebenso verehrt wie verfolgt. Letzeres ist Michail Schischkin zum Glück erspart geblieben. Seit sein Erstlingsroman 1993 einen Preis für das beste Debüt des Jahres errang, befindet sich der Autor auf Erfolgskurs. So zuverlässig, wie seine Romane im Fünfjahrestakt erscheinen, werden sie in Russland mit höchsten Auszeichnungen bedacht.

Dem deutschsprachigen Publikum war Schischkin, der seit 1995 aus familiären Gründen in der Schweiz lebt, bislang nur als (ebenfalls preisgekrönter) Autor des literarisch-historischen Reiseführers „Die russische Schweiz“ und einer literarischen Wanderung „auf den Spuren von Byron und Tolstoi“ bekannt. Im März ist nun – mit fünfjähriger Verspätung – sein Roman „Venushaar“ ins Deutsche übersetzt worden und hat gleich zwei Jurys überzeugt. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt wird er am heutigen Mittwoch mit dem Internationalen Literaturpreis prämiert, eine Auszeichnung, bei der zu Recht auch die Glanzleistung des Übersetzers Andreas Tretner mitbedacht wird. In der Schweiz erhält er im September den Spycher Literaturpreis Leuk.

Venushaar ist eine Farnpflanze, die gern auf feuchtem Mauerwerk wuchert. Tatsächlich lässt sich Schischkins Roman mit organischen Metaphern beschreiben: als Versuch, einer Welt Herr zu werden, die sich „ins Unendliche verzweigt, wie Kraut und Rüben aus dem Vorjahrsschnee herauswächst“. Den Leser erwartet ein schier unüberschaubares Gestrüpp ineinander verflochtener Schicksale. Jede Geschichte treibt wieder neue Geschichten aus sich hervor. Gestützt wird das wilde Geranke vom Gemäuer der kulturellen Überlieferung.

Im Städtchen Kreuzlingen an der deutsch-schweizerischen Grenze laufen die Fäden dieses Romangespinstes zusammen. Hier beginnt für Menschen, die in der Hoffnung auf Asyl weit gereist sind, die „beste aller Welten“, wo das Leben „ein lustig Liedlein“ ist. Und hier, in der „Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung“, tut ein namenloser Dolmetsch, in dem wir unschwer ein Alter Ego des Autors erkennen, seinen Dienst. Für einen schweizerischen Petrus, bei dem Asylsuchende Einlass ins eidgenössische Paradies begehren, übersetzt er Verhöre mit russischen Landsleuten. In den Pausen liest er Xenophons Anabasis. Die Geschichte des versprengten Griechenheeres auf der Suche nach dem rettenden Meer liefert gewissermaßen den Urtext für die zahllosen Berichte von Krieg, Not, Vertreibung und die Sehnsucht nach dem verlorenen Eden.

Michail Schischkin hat selbst lange für die Kreuzlinger Empfangsstelle für Asylsuchende gearbeitet. In zwölf Jahren wurden dort 70 000 Personen befragt. Das sind 70 000 Geschichten, viele wahr, andere erfunden, in jedem Fall aber Dokumente epischen Leidens. Kein Wunder, dass der Dolmetsch von der Wortflut überwältigt ist: „Diese Menschen, diese Reden – man wird sie nicht los.“

In der Welt, aus der die Asylsuchenden geflüchtet sind und die sie nun noch einmal ausbreiten müssen, erscheint das Böse als eine allgegenwärtige Macht, die nicht zu greifen ist: ein Untier aus Nebel. Schischkin zeigt, dass unsere gängigen literarischen Erwartungen vor diesen Geschichten versagen: Was sich zunächst wie ein Krimi oder ein modernes Ritterepos liest, endet gerade nicht mit dem Sieg der Gerechtigkeit. Wo Korruption und Willkür herrschen, erwischt es früher oder später jeden, der aufbegehrt.

Was in diesem Schreckenspanorama sichtbar wird, ist nur die oberste Schicht. Darunter lagern Sedimente, die jederzeit wieder aufbrechen können. Etwa Tschetschenien. Dort überschatten die jüngsten Kriege ein anderes, längst nicht verwundenes Trauma: die blutige Zwangsdeportation hunderttausender Tschetschenen und Inguschen durch Stalin in den Jahren 1943/44. Schischkin ruft sie uns in Erinnerung, mitsamt den Namenslisten der Massakrierten. Die Überlebenden geleitet er schließlich gemeinsam mit Xenophons Griechen zum rettenden Meer. Die Gegenwart in Schischkins Roman gleicht einem Gang übers Eis: „Der Fuß kommt ins Schlittern, und es ist ungewiss, wo und wann man aufklatscht. Hast du nicht gesehen, steckst du im Russisch-Türkischen Krieg!“

Schischkin weiß, wovon er spricht. Seine Familiengeschichte ist geprägt von Gewalterfahrungen. Ein Großvater verschwand im Gulag. Der Vater musste als Kind eines Verfolgten seine Herkunft verleugnen. Schischkin erinnert sich: „Sein ganzes Leben lang lebte er mit der Angst, dass man ihn jeden Moment entlarven und verhaften könnte. Diese Angst durchdringt, ob man es will oder nicht, von Generation zu Generation jedes Wort, das in kyrillischer Schrift geschrieben ist.“

Wie jäh die alten Wunden wieder aufbrechen können, hat Schischkin in Telefongesprächen mit seiner hochbetagten Großmutter erfahren: „Ich sage: Grüß dich, Oma, ich bin’s, Mischa. Sie unterhält sich mit mir, und an einem bestimmten Punkt setzt die Verwirrung ein. Sie begreift: Mischa, das ist ihr Mann, den sie damals verhaftet haben. Sie ist wieder in der Situation der Verhaftung, fängt plötzlich an zu schreien: Lasst ihn los, wo bringt ihr ihn hin? Alles Vergangene ist hier, gegenwärtig.“ Gewiss: Bisweilen scheint sich in „Venushaar“ die Polyphonie vergangener und gegenwärtiger Schicksale in postmoderne Beliebigkeit aufzulösen. Zeit und Raum sind porös. Durch die Löcher schlüpfen sogar die alten Griechen ins Jetzt. Da mutieren dann Daphnis und Chloe von Hirten zu modernen Zoobesuchern.

Ist also alles nur eine Neuauflage längst erzählter Geschichten, eine weitere Runde im endlosen Ringelreihen der Texte, das der Roman auf die verspielte Formel bringt: „Wenn Griechen hinter Griechen kriechen, kriechen Griechen Griechen nach...“? Keineswegs. Eine ehemalige Lehrerin des Dolmetsch hält gegen die Nivellierung aller Grenzen im unendlichen Text: „Die alten Griechen sind das eine, die Tschetschenen das andere.“ Ausgerechnet in Rom, wo die Vergangenheit allgegenwärtig ist, plädiert sie dafür, jede Geschichte, jede Stimme in ihrer Unverwechselbarkeit wahrzunehmen.

Eine solche Einzelstimme kommt im zweiten Erzählstrang zu Wort, den (fiktiven) Aufzeichnungen der Romanzensängerin Isabella Jurjewa, die es tatsächlich gegeben hat. Was ist denn daran interessant? fragt die junge Frau, als ihr jemand die Anabasis empfiehlt. Konsequent strebt sie nach einem Leben ohne den Wiederholungszwang des Leidens. Jedes Unrecht, ob historisch oder gegenwärtig, hält sie sich mit der Devise vom Leib: „Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen. Desto stärker müssen sie lieben. Damit die Welt im Gleichgewicht bleibt.“

Die Kritik hat diesen vermeintlichen Schlüsselsatz des Romans aufgegriffen und sich an ihm gerieben. Dabei wird er im Roman selbst ausdrücklich in Zweifel gezogen. Auch der Autor stellt im Gespräch klar, dass man es sich so einfach nicht machen darf: „So hätte man es gern. Aber das funktioniert nicht. Natürlich kann man des Lebens nicht froh werden, wenn man im Paradies wohnt und sich unter einem die Hölle auftut.“

Michail Schischkin: Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 560 Seiten, 24,99 €. – Am heutigen Mittwochabend um 20 Uhr findet im Haus der Kulturen der Welt, moderiert von Luzia Braun, die Preisverleihung mit einer Festrede von Hanns Zischler statt. Eintritt frei.

Bettina Kaibach

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