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Zwischen Lagos und Brooklyn. Am Donnerstag kommt Teju Cole zum Internationalen Literaturfestival nach Berlin und stellt seinen Roman vor.

© www.tejucole.com

Internationales Literaturfestival 2012: Lied von der Erde - Teju Cole

Im Migrationsdschungel: Teju Coles meisterlicher New-York-Roman „Open City“ blättert in den Schichten einer Stadt, in der sich die Kulturen und Epochen unablässig überlagern.

Von Gregor Dotzauer

Die Zahl der gegenwärtig Lebenden, so hat der Demograf Herwig Birg ausgerechnet, ist nichts gegen die Zahl der Toten seit Anbeginn der Menschheit. Die Lebenden umfassen höchstens ein Zehntel derer, die das Licht der Welt schon vergehen haben sehen. Die unvorstellbaren sieben Milliarden, die heute die Erde bevölkern, befinden sich in der Gesellschaft von noch viel weniger vorstellbaren Gespensterheeren. Freundlichen, die über ihre Herkunft wachen; unheimlichen, die an die Schreckenstaten ihrer Vorfahren gemahnen; und feindlichen, die ihnen noch aus dem Jenseits drohen.

Wenn Menschen andere Menschen unterjochen, vertreiben oder gar umbringen, wollen sie deshalb in aller Regel nicht nur über die Lebenden, sondern zugleich über die Toten richten. In dem Maß, in dem sie ihre eigenen Opfer in der Erinnerung verklären, versuchen sie, die der anderen dem Vergessen preiszugeben. Denn Sieger wie Besiegte historischer Kämpfe erkennen sich in ihren Toten wieder: Sie führen eine gleichsam doppelte Existenz. Und nicht nur sie. „Am Leben zu sein“, denkt Julius, der Ich-Erzähler von Teju Coles Debütroman „Open City“ bei seinen ziellosen Streifzügen durch New York einmal in aller Unschuld, „hieß Original und Spiegelung in einem zu sein; tot zu sein bedeutete, abgespalten zu sein, ein bloßes Spiegelbild.“

Mitten in Chinatown überfällt ihn diese Einsicht, in der „Raum-Zeit-Krümmung“ eines Kunsthandwerksladens voller gefälschter Lackkunst im Stil der Ming-Dynastie. Fern des 21. Jahrhunderts fühlt er sich, während draußen eine buddhistische Prozession vorbeizieht, deren Blaskapelle das Fanfarenecho von Gustav Mahlers Zweiter Symphonie zu spielen scheint, das ihn wiederum zu den Morgenappellen der nigerianischen Militärschule zurückversetzt, die er – Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters – als Kind besuchte. Ein Moment unwillkürlicher Allgegenwart, in dem das Wesen dieses Buchs aufleuchtet: das Blättern in den Schichten einer Stadt, in der sich die Kulturen und Epochen unablässig überlagern und zuweilen in einem einzigen Bild zusammenschießen.

„Open City“ stößt dabei in dem Palimpsest, der da „beschrieben, ausradiert und erneut beschrieben“ wird, wie beiläufig auf Spuren von Gewalt. An Ground Zero entdeckt Julius, wie ein Ort als Dreh- und Angelpunkt amerikanischer Geschichte inszeniert wird. Und zwischen Duane Street und City Hall Park entziffert er die Aufschrift eines unscheinbaren Monuments, derzufolge sich hier im 17. und 18. Jahrhundert auf einer Fläche von 25.000 Quadratmetern ein Sklavenfriedhof mit bis zu 20 000 Schwarzen befand, der Läden und Bürogebäuden weichen musste.

Die Zeichen der Kriege und Konflikte sind so übermächtig, dass Julius sie manchmal geradezu halluziniert, obwohl er die meiste Zeit ganz ungerührtes Kameraauge ohne innere Beteiligung zu sein scheint. Einmal, er ist für einen Kurzurlaub nach Brüssel ins Land seiner Großmutter gereist, verbringt er einen Abend in einem afrikanischen Hip-Hop-Club, den er in Kenntnis der belgischen Kolonialgeschichte von Kongolesen bevölkert wähnt. Doch plötzlich begreift er, dass all die schönen jungen Tänzer aus Ruanda stammen, und meint, dass sie zumindest Zeugen des Völkermords der Hutu an den Tutsi gewesen sein müssen – wenn nicht mehr: „Ich spürte die Beklemmung, die mich immer überkommt, wenn ich junge Männer aus Serbien oder Kroatien, Sierra Leone oder Liberia treffe. Ein Argwohn, dass auch sie getötet und erst später gelernt haben, wie man den Eindruck erweckt, unschuldig zu sein.“

„Open City“ ist eine philosophische Meditation, keine funkelnde Erzählmaschine

Der Gestus dieser an eine Obsession grenzenden Beobachtungsgabe stammt von W. G. Sebald, dem ins britische Norwich ausgewanderten Allgäuer. Kein anderer Erzähler hat städtische und ländliche Topografien so sehr als Zeugnisse von Verfallsgeschichte gedeutet. Die Aufmerksamkeit für die transkulturellen Fluchtlinien aber hat ihn V. S. Naipaul gelehrt, der Inder aus Trinidad, den es gleichfalls nach England verschlug. Beiden verdankt Teju Cole nach eigenem Eingeständnis einiges – und wohl auch die Distanz gegenüber den plotgetriebenen Formen des realistischen Romans und seiner Kulissenschieberei. Wie Naipauls „Rätsel der Ankunft“ ist „Open City“ eine philosophische Meditation, keine funkelnde Erzählmaschine. Essayistische Passagen voller Lesefrüchte und Kunstinterpretationen stehen gleichrangig neben solchen mit der Anmutung einer literarischen Reportage. Wenn das Ganze am Ende einen großen Prosagesang ergibt, liegt das sowohl an der in ruhigem Gleichmaß strömenden Stimme des Erzählers wie an der musikalischen Struktur, die dem Text in Anlehnung an Mahlers symphonisches „Lied von der Erde“ zugrunde liegt.

Julius, auf dem Sprung zu einer Karriere als Psychiater, durchwandert einmal den Jahreskreis und seine Stimmungen: die Einsamkeit des Herbstes und die Trunkenheit des Frühlings, er begegnet Schönheit und Jugend und dem Jammer der Erde. Schließlich, ein neuer Herbst zieht herauf, begleitet man ihn in die Carnegie Hall, wo Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker Mahlers Neunte aufführen – das letzte abgeschlossene Großwerk eines gesundheitlich schon schwer angeschlagenen Komponisten, der vor dem Wiener Antisemitismus Zuflucht in New York gesucht hatte.

Mit traumwandlerischem Gespür lässt sich Julius von Schicksalen anziehen, die von Migration und Krankheit betroffen sind. Er erzählt von Saito, seinem greisen Literaturprofessor aus Japan, trifft an der Penn Station einen haitianischen Schuhputzer und begegnet in Queens einem Liberianer in Abschiebehaft. Die ambivalenteste Figur ist allerdings der in einem Brüsseler Telefonshop arbeitende Marokkaner Farouq, für den Amerika nur eine Variante von Al Qaida ist – und die Palästinenserfrage die zentrale Frage unserer Zeit.

Fast enzyklopädisch dekliniert sich das Buch durch die Spannungszonen und Kontinente, ohne New York (mit Ausnahme von Brüssel) zu verlassen. Gerade in dieser Neigung zur Aufhäufung immer weiterer Geschichten liegt aber die Rechtfertigung seines Verfahrens. Sosehr man es als Quersumme aus den Schriften von Edward Said und Kwame Anthony Appiah lesen kann, sosehr verweigert es eine eindeutige politische Botschaft – bis auf ein nur literarisch zu erreichendes Ansinnen.

„Open City“ arbeitet mit aller Macht gegen die Verabsolutierung der eigenen historischen Niederlagen, wie auch gegen deren Relativierung in der Masse konkurrierender Traumata. Kein Leiden darf gegen ein anderes aufgerechnet werden, es darf aber auch keines verschwiegen werden. In diesem Sinn ist das Buch ein Plädoyer für die Unendlichkeit kultureller Differenz.

Teju Cole, 1975 in Michigan als Kind einer nigerianischen Mittelschichtsfamilie geboren, hat diese Differenz am eigenen Leib erlebt. Er wuchs in Lagos auf, wo Yoruba seine erste Sprache war. Englisch lernte er in der Schule. Erst zum Studium der Kunstgeschichte an der Columbia University kehrte er in die USA zurück und lebt heute in Brooklyn. Er ist, wie seine Website www.tejucole.com zeigt, auch ein herausragender Fotograf und einer der wenigen Schriftsteller, die Twitter als literarisches Medium zu nutzen verstehen. Unter dem Titel „Small Fates“ sammelt er faits divers aus einem 100 Jahre zurückliegenden New York.

Die gedankliche Spannweite seines Romans, dessen verschlungenen Wegen man Satz für Satz folgen muss, kann man auch in Christine Richter-Nilssons ausgezeichneter Übersetzung erleben. Die polierte, alles Idiomatische scheuende Eleganz seines Englisch, das gerade in der Perfektion ein erobertes Englisch ist, kann sie natürlich nicht nachbilden. Man lese es so oder so: „Open City“ ist bei allem Abtauchen in die Tiefen der Geschichte von einer Aktualität, in der das unruhige Herz unserer Zeit schlägt. Das kann man nur von den wenigsten Büchern behaupten.

Teju Cole: Open City. Roman. Aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 335 Seiten, 22,95 €. – Der Autor stellt sein Buch am Donnerstag, den 13.9., um 19.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele vor.

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