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Kultur: Internationales Literaturfestival Berlin: Der Zufallsgenerator

Hoffnung für Berlin kommt aus Benin. Wenige Stunden nach der Abwahl Eberhard Diepgens leuchtete ein smaragdgrüner Turban aus dem Dunkel hauptstädtischer Zerknirschung.

Hoffnung für Berlin kommt aus Benin. Wenige Stunden nach der Abwahl Eberhard Diepgens leuchtete ein smaragdgrüner Turban aus dem Dunkel hauptstädtischer Zerknirschung. Die Afrikanerin Ken Bugul wies mit ihrem Hymnus an "Berlin!", an die "Mythenstadt, die mystische Stadt, die Torstadt, die Mauerstadt" den Weg aus dem gegenwärtigen, an sich ortsunüblichen Kleinmut. "So werden deine lichtvollen Lichter von einst von neuem die Seelen in der Hoffnung auf die Zukunft erhellen", sprach sie in die Düsternis der Sophiensäle hinein. Ovationen brandeten auf, und spätestens da hatte sich das Internationale Literaturfestival Berlin in eine lokalpatriotische Herzensangelegenheit verwandelt.

"Die Welt über dem Wasserspiegel" heißt die Berliner Anthologie, zu der 33 der eingeladenen Autoren jeweils drei Gedichte beitrugen, wobei ein eigenes darunter sein durfte. Der lyrische Streifzug durch die Zeiten und Länder, eingeleitet von Joachim Sartorius und herausgegeben vom Festivalleiter Ulrich Schreiber, unterstellt sich dem gar nicht frommen Wunsch von Joseph Brodsky, die Bibeln in den Schubladen von Hotel-Nachttischen durch ein Buch mit den "hundert besten" Gedichten der Weltliteratur zu ersetzen. Ken Bugul, über Westafrika hinaus berühmt geworden mit dem Roman "Die Nacht des Baobab", bekannte nach ihrem furiosen Auftritt, sie habe sich zu der Ode auf das ihr unbekannte Berlin durch Filme aus den zwanziger und dreißiger Jahren inspirieren lassen.

Charles Simic bestritt den Festivalauftakt mit Lars Gustafsson und Yang Lian, wie der ebenfalls eingeladene Bei Dao ein Chinese im Exil und bedeutender Vertreter der "hermetischen" Poesie. Skeptisch blickte Simic zur abblätternden Decke des verdunkelten Festsaals hoch, meinte dann aber mit amerikanischem Sinn für das Lapidare: "A nice place to read." Oder: Was denkt ein Inder, der mit seinem indonesischen Kollegen vor der Diaprojektion der deutschen Übersetzung eines spanischen Gedichtes sitzt? Ihre Herkunft aus drei Schwellenländern verbinde den in Mexiko lebenden Argentinier Hugo Bola, Namdeo Dhasal aus Bombay und den Indonesier Agus R. Sarjono, schlug die Moderatorin hilflos vor. Manche Autorenkombinationen wirkten, als seien sie vom Zufallsgenerator bestimmt worden. Man nehme einen Weißrussen wie Ales Rasanau, der ein rührend altmodisches Selbstverständnis hat - "Der Dichter muss seinen eigenen harmonischen Weg verwirklichen, auf den der Kosmos antwortet" -, kombiniere ihn mit Mazisi Kunene aus Südafrika und der Minimalistin Sam Brown: Fertig ist die freundliche Ratlosigkeit.

Den Veranstaltern des Großereignisses konnte es offenbar nicht polyglott genug zugehen. Europa liegt zu nah. Mit Antonio Tabucchi ist bis zum 24. Juni nur ein einziger Italiener präsent. Wer Französisch hören will, sieht sich auf wenige frankophone Afrikaner verwiesen, Spanisch ist durch Südamerika vertreten. Die Angelsachsen dagegen sind mit Autoren wie den Neuseeländerinnen Pam Brown und Sarah Quigley oder Briten wie James Fenton und Daniel Weissbort stattlich repräsentiert. Namen über Namen, Idiome über Idiome - mit der Zeit führt das zu einem linguistischen Overkill.

Eine gewisse Duldsamkeit werde eben bei den Hörern vorausgesetzt, meinte der geschmeidige Iso Camartin. Dabei hatte der Rätoromane noch leichtes Spiel: Inger Christensen, die spielerisch zwischen Dänisch und Deutsch variiert, traf mit Günther Kunert auf Rita Dove aus Ohio. Die Chronistin der schwarzen Widerstandsbewegung hat einige Semester in Tübingen studiert, das half ungemein. "Ich muss dann schon anfangen, nicht wahr?", fragte Inger Christensen etwas ratlos. Und dann siegten erneut ihre Zaubersprüche über die Tücken der Realität: "Je mehr die Blume beschrieben wird, desto klarer wird, dass sie nicht beschrieben, sondern verborgen wird."

Doch das Prinzip Zufallsgenerator hat auch seinen Charme: Wie Echos antworteten die zeitlich auseinanderliegenden Lesungen in jeweils einer Nationalsprache aufeinander, etwa Bei Dao auf Yang Lian. Während Yang, seit dem Massaker von 1989 im Exil, den Verlust seines Resonanzraums in Gestalt der Schriftzeichen beklagt, steigert sich bei seinem Landsmann die Düsternis zur Verrätselung. Aufforderungen, sein Werk selbst zu interpretieren, lehnt er ab - schon in China habe er den Beinamen "Schweigsamer Stein" erhalten, erklärt sein Übersetzer Wolfgang Kubin. Das Trauma des Verlustes perpetuiert sich bei Bei Dao zur dunklen Grundierung seines Schreibens: Verse wie "Die blinde Uhr schlägt einem Abwesenden" oder "Lügen - im Kern des Wortes gleiten sie zum Schlächter" zeugen davon. Ein anderes Echo, diesmal aus Südamerika: "Zwischen einer Idee und einer roten Kuh / bleibe ich bei der Kuh", antwortete in bestrickender Schlichtheit Enrique Fierro aus Uruguay auf die Apotheose des Morgengrauens, die Stunden zuvor Hugo Gola aus Mexiko intonierte. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen ist der weiße Vollbart à la Ernesto Cardenal.

Nach soviel Turmbau zu Babel erinnert man sich aufatmend zweier monothematischer Ereignisse: amnesty international, die PEN-Organisation "Writers in Prison" und der DGB machten auf die Schicksale fünf verfolgter Autoren aufmerksam. Die türkische Journalistin Nadire Mater immerhin wurde Ende Mai aufgrund internationalen Drucks endgültig freigesprochen.

Von der Fünfziger-Jahre-Anmutung des DGB-Hauses zurück in den schwärzlichen Sophiensälen, zu einer Gedenkstunde für Jehuda Amichai. "In Jerusalem hat auch der Wind Zähne, besonders entlang des Niemandslandes" zitierte der israelische Botschafter Shimon Stein den 1924 in Würzburg geborenen "Nationaldichter" seines Landes. Amichai stand auf der Gästeliste des Festivals, als er im September starb. Tamara Stern und Otto Sander zelebrierten eine hebräisch-deutsche Wechsellesung des Dichters der Kriege, der zugleich als Verkünder der Humanität galt, eine hierzulande irritierende Kombination. Amichai eröffnet auch die Berliner Anthologie, allerdings nicht mit einer Hymne wie Ken Bugul, sondern mit einer nahrhaften Metapher, die sich auf Poeten aller Kontinente anwenden lässt: "Und die Sehnsucht ist in mir eingeschlossen wie Luftblasen in einem Brotlaib."

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