zum Hauptinhalt
Pulitzer-Preisträgerin Jhumpa Lahiri wurde 1967 in London geborten, sie lebt in Brooklyn/New York.

© Rowohlt

Internationales Literaturfestival Berlin: Narziss und Luftwurzel

Die amerikanische Autorin Jhumpa Lahiri stellt in Berlin ihren Roman „Das Tiefland“ vor - gemeinsam mit Hanna Schygulla.

Manchmal wirkt Körpersprache wie eine Erzählung. Auf der einen Seite die Grande Dame des Neuen Deutschen Films, die Beine bequem von sich gestreckt, mit der bekannten, inzwischen etwas ergrauten hochgetürmten Frisur; auf der anderen die in London als Tochter bengalischer Eltern geborene Schriftstellerin, körperkontrolliert, den Kopf häufig auf die Hände gerichtet, zurückhaltend, nachdenklich-zögerlich sprechend.

Auftritt beim Literaturfestival, zum Eröffnungsabend. Unterschiedlicher als Hanna Schygulla und die in den USA aufgewachsene Jhumpa Lahiri bei ihrem Auftritt auf dem Internationalen Literaturfestival im Haus der Berliner Festspiele können zwei Frauen kaum sein. Die Schauspielerin, Zeugin einer wilden, bewegten Zeit, und die 1967 geborene Pulitzer-Preisträgerin, die in ihrem Roman „Das Tiefland“ einer Geschichte nachgeht, in der die Fäden zwischen den globalen Studentenrevolten und den postkolonialen Kämpfen der sechziger und siebziger Jahre aufscheinen. Wie nähert man sich gerechtigkeitsfanatischen, revolutionsgläubigen Akteuren, die sich von den maoistischen Ideen begeistern ließen und Gewalt als legitimes Mittel betrachteten in Ländern, die sich oft genug im Ausnahmezustand befanden? Und wie ist das heutzutage noch zu vermitteln?

"Das Tiefland", eine Familiengeschichte, basiert auf der Biografie ihres bengalischen Vaters

Lahiris Erzählung basiert auf Erfahrungen ihres zeitlebens zwischen den Kulturen wandernden bengalischen Vaters. Sie handelt von einer einst in seiner Nachbarschaft wohnenden Familie in Kalkutta und von einer Zeit, als es hier viele innere Unruhen gab, Flüchtlingsströme das Bevölkerungsgefüge erschütterten und gerade jüngere Menschen von der an die Macht gekommenen Kommunistischen Partei Indiens enttäuscht waren. In diese Zeit werden die ungleichen, aber symbiotisch verbundenen Brüder Subhash und Udayan Mitra hineingeboren. „Du bist mein Gegenstück, Subhash. Ohne dich bin ich nichts.“ Sie wachsen in einem dem Meer abgerungenen Randbezirk der Stadt auf, der Enklave Tollygunge.

Während Vater Mitra mit der Unabhängigkeit Indiens alle politischen Ziele erreicht sieht, empfindet der impulsive Udayan die sozialen Verhältnisse als unerträglich. Der etwas ältere zurückhaltende und ehrgeizige Subhash, zwischen tiefer Bruderliebe und Konkurrenz zerrissen, verlässt seine Heimat, um in den USA sein Studium fortzusetzen. Udayan dagegen schließt sich den Naxaliten, einer maoistischen Strömung, die die Revolte der Landbevölkerung anführt, an und heiratet gegen den Willen seiner Eltern Gauri. In Rohde Island erreicht Subhash, der sich dort wie „ein Gast“ fühlt, für den sich jederzeit „die Tür willkürlich wieder schließen“ kann, die Nachricht vom gewaltsamen Tod Udayans. Dieses Ereignis, seine Umstände und Hintergründe werden zum dramatischen Wendepunkt für die Familie.

Zehn Jahre lang hat Lahiri an diesem Roman gearbeitet. Zwar war sie als Kind in Kalkutta, doch von den politischen Ereignissen hatte sie nur verschwommene Vorstellungen. Wie also einen so fremden Stoff bändigen? Filme, sagt die Autorin bei der Veranstaltung in Berlin, hätten ihr geholfen. Später sei sie nach Kalkutta gereist, um Zeitzeugen zu befragen. Die zentrale Szene, die willkürliche Erschießung Udayans durch die Polizei, sei ihr aber von Anfang an vor Augen gestanden.

Lahiri, die selbst in New York lebt, schreibt mit überlegter Präzision. Ihre Genauigkeit offenbart sich im Aufbau der komplizierten, sich über fünfzig Jahre und mehr erstreckenden Geschichte, die das politische Geschehen des Landes ebenso nachzeichnet wie das sich über mindestens drei Generationen erstreckende Familienschicksal. Lahiri hat sich deshalb für eine Art Entdeckungsdrama entschieden, in dem die unterschiedlichen Schuldzusammenhänge der Protagonisten erst in genau kalkulierten Rückblicken erhellt werden.

Mit Udayans Tod muss auch Subhash sich entscheiden: Soll er seine Sohnespflicht erfüllen und nach Indien zurückkehren? Doch seine in Verlustschmerz versteinerten Eltern übersehen ihn auch jetzt, und so will er zumindest die von ihnen abgelehnte schwangere Schwiegertochter erlösen, indem er Gauri heiratet und nach Amerika holt. Die kurz darauf geborene Tochter Bela könnte ihr Trost sein, doch sie wird zum Anstoß in dieser Ehe. Gauri kann die Verantwortung für diese letzte Hinterlassenschaft Udayans nicht annehmen, noch als Toter bestimmt er das Schicksal des Paars.

Die Gerüche Kalkuttas: Sinnliche Wahrnehmungen vermittelt Lahiri hautnah

Von welcher Schuld Gauri tatsächlich getrieben wird, enthüllt sich erst zum Schluss. Und obwohl alle Protagonisten frei entschieden haben – Udayan für das Leben im Untergrund, Subhash für das Exil, beide Brüder für Gauri und diese wiederum für ein Leben „in Einsamkeitskernen“ –, ist es die sinnlos erscheinende Politik, die ihr Leben bestimmt. „Udayan hatte sein Leben für eine irregeleitete Bewegung hergegeben. Die einzige Veränderung, die er bewirkt hatte, war die in ihrem Familienleben.“ Udayan gehörte nur zum „Fußvolk“. Im Internet finden sich keine Spuren mehr von ihm.

Die politische Geschichte Westbengalens und der Naxaliten, so wie sie sich ihr nach und nach erschlossen habe, bekräftigt Lahiri, sei zwar konstitutiv. Dennoch handele es sich um einen Familienroman, den sie aus der jeweiligen Perspektive der Figuren erzählt – zu denen sie bei aller psychologischen Einfühlung immer eine gewisse Distanz hält.

Sinnliche Wahrnehmungen wie die üblen Gerüche Kalkuttas vermittelt Jhumpa Lahiri dagegen hautnah. Farben spielen eine Rolle und die Natur, das Meer, Tiere, die Wasserhyazinthen oder die Luftwurzeln der Mangroven- und Banyanbäume. Der sich vor seinen Verfolgern vergeblich im Hyazinthenmeer verbergende Udayan ist kein romantischer, aber vielleicht ein politischer Narziss. Subhash dagegen hat viel mit den Luftwurzeln gemeinsam, die ausgreifen und anderswo Boden fassen.

Jhumpa Lahiri: Das Tiefland. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Rowohlt, Reinbek 2014. 521 Seiten, 22,95 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false