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Interview: Anatolien rückt näher

Istanbul ist derzeit eine der spannensten Orte der Welt. Die Türkei-Expertin Claudia Hahn-Raabe spricht mit dem Tagesspiegel über diese Stadt und den Westen.

Frau Hahn-Raabe, bei der Frankfurter Buchmesse

nächste Woche ist die Türkei das Gastland. Das von Ihnen geleitete Goethe-Institut Istanbul hat sich dafür besonders engagiert.

Wir betreiben seit März mit unseren türkischen und deutschen Partnern sowie in einem Fall mit den Kollegen aus Österreich das Schriftsteller-Projekt „Yakin Bakis“. Der Name bedeutet „Der nahe Blick“ – es geht um das genaue Hinsehen, die vertiefte Einsicht. Sieben deutsche Schriftsteller und Barbara Frischmuth als Österreicherin wurden eingeladen, in acht türkischen Städten von Istanbul bis zum ostanatolischen Kars oder Sanhurfa an der Grenze zu Syrien vier Wochen zu leben und dort als Stadtschreiber eine Art interkulturelles Tagebuch zu verfassen. Die Beiträge von Sabine Küchler, Barbara Frischmuth, Klaus Reichert, Thomas Rosenlöchner und anderen kann man nun im Internet nachlesen. Im Gegenzug kamen seit Juli acht türkische Autoren in sieben deutsche Städte und nach Salzburg, sie werden sich natürlich auf der Buchmesse präsentieren.

Wer hat die Autoren ausgewählt?

Bei uns waren es die Literaturhäuser, in der Türkei der PEN-Club.

Istanbul wird 2010 Kulturhauptstadt Europas, neben Essen. Hierfür ist eine deutschtürkische Kooperation geplant. Und die Regierung Erdogan betreibt weiterhin die Aufnahme der Türkei in die EU. Was wäre passiert, wenn das Verbot der populären Regierungspartei AKP durch das Verfassungsgericht in Ankara diesen Sommer nicht denkbar knapp abgelehnt worden wäre?

Es gab in Deutschland wohl Kommentare, die die Türkei schon am Rande eines Bürgerkrieges sahen. In Istanbul betrachten wir das mit mehr Gelassenheit. Über das Urteil sind die meisten erleichtert. Aber die Türkei hat in den letzten Jahren so viel an Modernisierung und kultureller Öffnung erlebt, dass man das Rad ohnehin kaum mehr zurückdrehen kann.

Trotzdem wirkt es verwirrend, dass die reformpolitische Öffnung vor allem von der islamisch geprägten AKP betrieben wird, die von der Elite der säkularen, aber nationalistischen Kemalisten bekämpft wird.

Tatsächlich will die AKP das Land nach Europa führen und auch kulturell annähern. Man kann die AKP nicht auf das Religiöse reduzieren, das ist, wie wenn man die CDU nur auf das Attribut „christlich“ festlegen würde. Es gibt natürlich auch Türken, die da skeptischer sind. Aber wir im Goethe-Institut haben von den türkischen Regierungsstellen bisher jede gewünschte kulturpolitische Unterstützung und eine große Offenheit erfahren.

In Westeuropa ist das Bild von der Kultur, der Literatur der Türkei vornehmlich durch Istanbul geprägt. Über allem steht der Istanbuler Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der die Hauptrede der Buchmesse halten wird. Pamuk aber wurde in der Türkei bedroht und muss bis heute um sein Leben fürchten – ist die Stadt repräsentativ für das ganze Land?

Istanbul ist natürlich die Metropole, das „türkische New York“. Aber das strahlt aus, bis in die ferneren Provinzen. Sener Özmen, der im Rahmen von „Yakin Bakis“ der türkische Stadtschreiber in München war, ist ein gutes Beispiel: Özmen kommt aus Diyarbakir in Südostanatolien und ist Kurde, bildender Künstler und Schriftsteller. In seinem zwischen Erzählung und bildnerischer Inszenierung changierenden Werk „Trauma und Reform“ setzt er sich mit den gesellschaftlichen Spannungen in der Türkei auseinander; er hat sich in seinem Comicband „Blut ist süßer als Honig“ auch kritisch mit der Blutrache und Stammesmorden beschäftigt, ebenso mit dem inneren und äußeren Exil: das alles von Diyarbakir aus und im Austausch mit Künstlern und Autoren aus ganz Europa. Auch er repräsentiert die vielen Gesichter der modernen Türkei. In der Osttürkei, die ja eine reiche alte Kulturlandschaft ist, entstehen neue kulturelle Zentren, Museen und viele Universitäten. Es fließt dorthin auch immer mehr Geld. Osman Kavala, der Direktor von Anadolu Kültür, will Anatolien an den Westen heranführen.

Was ist Anadolu Kültür?

Anadolu Kültür ist ein Verein, der im Rahmen der EU-Beitrittsbemühungen die kulturelle Entwicklung in Städten wie Diyarbakir, Kars und Antakya vorantreibt. Das Geld kommt vornehmlich aus der neuen türkischen Zivilgesellschaft. Die Familie Kavala ist wohlhabend; Osam Kavala finanziert Filmclubs in Ostanatolien oder auch Ausstellungen wie die große Fotoausstellung Ebru von Attila Durak, die jetzt im Rahmen der Buchmesse gezeigt wird, aus privaten Mitteln, zum Teil durch Fundraising, zum Teil auch mit internationalen Fördermitteln.

Sind in dieser Kulturszene weit östlich von Istanbul Frauen als Künstlerinnen, in der Leitung von Institutionen und im Publikum schon wirklich gleichberechtigt?

Natürlich, da gibt es keine Unterschiede zum Westen. Die Kultur ist immer schon weiter als die Politik oder Teile der Gesellschaft.

Spielt dabei auch das türkische Kulturministerium eine verstärkte Rolle?

Das spüren wir deutlich. Beim Stadtschreiberprojekt hat Kulturminister Ertugrul Günay entscheidend geholfen. Normalerweise trägt Goethe ja die Kosten für deutsche Autoren in einem Gastland. Günay aber sagte nach orientalischem Vorbild, unsere Gäste sind in allem unsere Gäste. Die Türkei hat die deutschen Autoren durchweg in Fünf-Sterne-Hotels untergebracht und jedem vier Wochen lang einen persönlichen Reisebegleiter und Übersetzer gestellt. Klaus Reichert –

... der Frankfurter Lyriker und Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung ...

– war erstaunt und hat sich bedankt, dass er im Rahmen eines Goethe-Projekts zum ersten Mal in der Businessclass eingeflogen wurde. Er war Stadtschreiber in Urfa, nahe der syrischen Grenze: Dort treffen die spannenden und spannungsvollen Einflüsse unterschiedlicher Kulturen und Ethnien zusammen, es gibt in Urfa arabische, kurdische, armenische Traditionen. Früher hätte die Politik in Ankara eher ein homogeneres, standardisiertes Bild der Türkei präsentiert. Aber Ertugrul Günay sagt immer, dass zum Reichtum seines Landes gerade die kulturelle Vielfalt gehört.

„Faszinierend farbig“ ist das Motto, unter dem sich die Türkei in Frankfurt mit rund 200 Autoren vorstellt. AKP-Kulturminister Günay hat betont, dass nicht die Regierung, sondern der unabhängige Schriftstellerverband die Autoren ausgewählt hat. Trotzdem gibt es Proteste, etwa 20 Autoren wollen die Messe boykottieren, weil versucht werde, Frankfurt als Bühne für einen „gemäßigten Islam“ zu missbrauchen. Orhan Pamuk sagte kürzlich, dass AKP und die Kemalisten noch keine wirklich offene, demokratische Gesellschaft ertrügen – das sei die „türkische Tragödie“.

Ich finde es sehr schade, dass sich einige Schriftsteller weigern, an der Buchmesse teilzunehmen. Es ist für alle eine einmalige Chance, auf dieser internationalen Bühne aufzutreten. Selbst wenn kontrovers diskutiert wird und man nicht mit der Regierung einverstanden ist, sollte das offen ausgetragen werden.

Zur Verstärkung des kulturellen Austauschs soll in Istanbul im Vorort Tarabya eine „Deutsche Künstlerakademie“ entstehen. Unter der Ägide Ihres Instituts?

Wie das Goethe-Institut involviert sein wird, ist noch nicht entschieden. Wenn der Bundestag in diesem Herbst die Mittel bewilligt, wird man die Häuser herrichten und 2010 zum Kulturhauptstadt-Jahr voraussichtlich vier Stipendiaten nach Tarabya einladen können. Schon ein Vierteljahres-Stipendium wäre für die deutsche wie für die türkische Kulturszene eine tolle Sache. Istanbul ist im Moment eine der spannendsten Städte der Welt.

Das Gespräch führte Peter von Becker.

Claudia Hahn-Raabe leitet das Goethe-Institut in Istanbul.

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