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Interview: "Die Kinos sind unsere letzten öffentlichen Räume"

Der Europäische Filmpreis-Gewinner Cristian Mungiu über Rumänien, seinen Erfolg und den Unterhaltungsschock seit der Wende.

Am Sonnabend gewann der Rumäne Cristian Mungiu mit „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ in Berlin den Europäischen Filmpreis, er wurde außerdem als Regisseur des Jahres ausgezeichnet. Sein Abtreibungsdrama, das im Mai die Goldene Palme in Cannes gewonnen hatte, läuft seit knapp zwei Wochen in den deutschen Kinos. Es erreichte bislang 9000 Zuschauer (in Frankreich: 300 000).

Herr Mungiu, Ihr Film erhält im Ausland bedeutende Preise und wird in den Medien gefeiert. Warum ist ausgerechnet der rumänische Film plötzlich erfolgreich?

Vielleicht, weil wir derzeit äußerst lebendiges Kino machen. Die neue Generation von Filmemachern hat mit dem Kommunismus nichts mehr am Hut. Sie produziert keine komplizierten, metaphorischen Filme, sondern erzählt einfach Geschichten, die außerdem nichts Revanchistisches in sich tragen.

In Rumänien gibt es nicht nur positive Reaktionen. So hieß es, Sie hätten in Cannes über Beziehungen gewonnen, es sei eine politische Entscheidung gewesen.

Rumänen sind Klatschtanten, sie vermuten hinter jedem Erfolg eine Verschwörung. Vielleicht ist das die Folge der jahrzehntelang gelebten Verschwörungstheorie aus kommunistischen Zeiten. Mich amüsiert das eher, denn ich bin doch ein gutes Beispiel dafür, dass man auch ohne Beziehungen Erfolg in dieser Welt haben kann. Man kann ein Außenseiter sein, doch wenn man zum passenden Zeitpunkt das Richtige macht, ist alles möglich. Mein Erfolg widerlegt all jene, die untätig zu Hause bleiben im Glauben, dass sowieso immer jemand ein Komplott gegen sie schmiedet.

Ihr Film ist ein beklemmendes Porträt der Ceausescu-Diktatur, die Abtreibung mit Haftstrafen ahndete. Warum blicken Sie in die Vergangenheit zurück?

Es ist ein Film auch über die Gegenwart. Ich zeige, wie wir einst gelebt haben und warum wir heute so sind, wie wir sind. Bis 1989 waren Abtreibungen in Rumänien verboten. Als sie erlaubt wurden, gab es 1990 knapp eine Million Abtreibungen, noch heute sind es rund 150 000 pro Jahr. Warum? Weil die Leute nicht verstehen, dass Abtreibung keine Verhütungsmethode ist.

Sie sagen, Sie wollen Filme machen, die provozieren. Die Zeitung des Vatikans, „L’Osservatore Romano“, schrieb, Ihr Film sei „widerlich“. Versteht der Vatikan nicht, wie repressiv das Ceausescu-Regime mit Abtreibungen umging?

Der Vatikan und ich sprechen über dasselbe Thema, jedoch aus verschiedenen Perspektiven: der Vatikan vom religiösen Standpunkt aus, ich vom künstlerischen. Es herrscht Verwirrung, weil man glaubt, ein Filmdrama vermittle nicht einen dramatischen Filmstoff, sondern eine extreme Einstellung. Außerdem glaube ich, dass man den Menschen mit den Mitteln der Kunst eher Bildung ermöglicht als mit einer Predigt.

Ist das rumänische Publikum nach langer Abstinenz nicht eher an Hollywood als an einheimischen Filmen interessiert?

Sicher interessieren sich die meisten Kinobesucher wie in ganz Europa mehr für Hollywoodproduktionen. Aber die Leute wollen auch Geschichten über sich selbst hören, über Dinge, die ihnen nahe sind. Für diese Leute müssen wir Filme machen, auch wenn es nur wenige sind. Und wenn ein Film die Seele anspricht, wird er nicht nur in Rumänien, sondern auch überall sonst verstanden.

In ganz Rumänien gibt es nur noch 35 Kinos. In manchen ist der Ton erbärmlich, die Leinwand verschlissen. Warum ist die Kinolandschaft so verkommen?

Vor 1989 ging man in Rumänien ins Kino, weil es keine andere Unterhaltungsangebote gab. Der staatliche Fernsehkanal strahlte täglich eine zweistündige Propagandasendung aus, warum sollte man sich die ansehen? Heute bekommt man für den Preis einer Kinokarte -zig Sender per Kabel ins Haus. Wir haben nach der Wende förmlich einen Unterhaltungsschock erlitten. Und je mehr Unterhaltungsoptionen es gibt, desto weniger Publikum bleibt fürs Kino. Also verfielen die Säle, die Zuschauer blieben aus, ebenso der von den Produzenten erwartete Profit. Die Politik hat übrigens auf diesen Verfall hingearbeitet, denn die Kinos sind die letzten öffentlichen Räume in den Innenstädten, die noch nicht verkauft sind. Nun wartet man auf Immobilienhaie, um sie als profitable Bürogebäude auszubauen, anstatt sie wieder als Kinos zu beleben – denn diese Variante ist natürlich viel unrentabler.

Emir Kusturica will seinen neuen Film „Zavet“ in Serbien zwei Jahre lang nur in einem einzigen Dorfkino zeigen, um damit auf den katastrophalen Zustand der Lichtspielhäuser des Landes aufmerksam zu machen. Was halten Sie davon?

Wenn ich einmal so viele Filme gedreht habe wie Kusturica, kann ich es mir vielleicht auch leisten, meinen Film nur auf meine Hauswand zu projizieren. Aber bis dahin möchte ich ihn zum Zuschauer bringen. Ich bin mit meinem Film durch Rumänien gezogen, habe ihn an Orten gezeigt, in denen die Kinos längst geschlossen sind, denn ich will bei den Leuten wieder die Sehnsucht nach Kino wecken. Es ist deprimierend, egal ob mit oder ohne Preise, kein Publikum zu haben.

Rumänien hat Sie als Nominierungskandidat für den Oscar vorgeschlagen. Sie haben sich kritisch dazu geäußert?

Diese Entscheidung habe nicht ich getroffen, das waren rumänische Kulturpolitiker. Der Oscar ist eine wunderbare Auszeichnung für jemanden, der im Sinne des amerikanischen Filmsystems arbeitet. Für einen bestimmten Stil von Filmen kann man nicht erwarten, von einem anderen System ausgezeichnet zu werden. Den Auslandsoscar sollte ein Film bekommen, der mehr als meiner eine klassische amerikanische Erzählstruktur mit einem europäischen Filmstoff verbindet.

Das Gespräch führte Annett Müller.

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