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Interview: "Es gibt genügend Hindus und Muslime, die nicht von der Gewalt fasziniert sind"

Der Psychoanalytiker Sudhir Kakar sprach mit dem Tagesspiegel über das Zusammenleben von Muslimen und Hindus. Der Wissenschaftler zeigt sich optimistisch, dass nach der Terrorwelle die Religionsgemeinschaften in Indien wieder zueinanderfinden.

Mister Kakar, in Ihrem Buch „Die Gewalt der Frommen“ haben Sie 1996 die Dynamik der Ausschreitungen zwischen Moslems und Hindus in Indien analysiert. Inzwischen erlebt Indien eine andere Gewalt von Frommen. Was ist der Unterschied?



Was heute geschieht, spielt sich nicht mehr auf der lokalen Ebene spontaner Konfrontationen ab. Hier wollen Islamisten einen Dschihad, einen heiligen Krieg gegen Indien führen. Ihre Loyalitäten liegen nicht bei regionalen Gruppen von Muslimen, sondern bei etwas, das sie als die Internationale muslimische Gemeinschaft verstehen. Bei den Anschlägen in Bombay haben auch Muslime ihr Leben verloren, das sind für solche Attentäter gewissermaßen Kollateralschäden. Auch das antisemitische Element dieser Gewalt ist ein Aspekt der Internationalisierung. Antisemitismus hat es in Indien bisher nie gegeben. Ein enormer Unterschied zu früher liegt auch darin, dass sich nach allen Unruhen die Spannung wieder gelegt hat und die Gruppen wieder zu einer friedlichen Koexistenz fanden. Da es jetzt immer häufiger Anschläge gibt, fehlt die Zeit, um Spannungen abebben zu lassen. Das führt zu Polarisierung und einer Ghettomentalität bei den Muslimen.

Unter den 150 Millionen indischer Muslime fühlen sich viele diskriminiert.


Das ist insofern wahr, als die Muslime die am geringsten entwickelte Gruppe der Gesellschaft sind, die keineswegs so repräsentiert sind, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Es stimmt nicht, dass hinter dieser Situation eine Absicht steckt, welche die Regierung aktiv verfolgt. Tatsächlich werfen rechte Hindus den Regierungsparteien vor, dass die muslimische Minderheit bevorzugt würde, um sich deren Stimmen zu sichern.

Warum sind Indiens Muslime häufig so rückständig?

Zu den Ursachen dafür zählt, dass bei der Abspaltung Pakistans von Indien der indisch-muslimische Mittelstand und die muslimischen Eliten es vorzogen, nach Pakistan auszuwandern. Wer ärmer war, blieb in Indien zurück. Diese Menschen machen nun die Mehrzahl der Muslime in Indien aus. Zu den größten Errungenschaften des wirtschaftlichen Fortschritts in Indien gehört es allerdings, dass wieder ein muslimischer Mittelstand entsteht, der der Modernisierung offener gegenübersteht.

Welche Rolle spielt die Erziehung bei der Prävention von Gewalt?

Die meiste Gewalt geschieht im Namen der Gerechtigkeit – für die Unterdrückten, die Marginalisierten, diese oder jene Religion. Wir müssen unseren Kindern klarmachen, dass Gerechtigkeit zwar wichtig ist, aber Mitempfinden, Empathie unbedingt der höhere Wert ist. Gewalt kann niemals im Namen der Gerechtigkeit entschuldigt werden.

Indiens Rolle auf den Weltmärkten nimmt an Bedeutung zu. Gute Beziehungen zu den Nachbarländern sind wichtig für eine florierende Wirtschaft. Wie können sich Indien und Pakistan einander annähern?


Sie haben gar keine Alternative, sie müssen ein friedliches Miteinander suchen, wollen sie beide ökonomisch weiter vorankommen. Zurzeit ist das schlimmste Problem von Pakistan, dass der Staat kaum eine Kontrolle über die Dschihad-Gruppen auf seinem Gebiet ausüben kann. In deren Interesse liegt es aber, die beiden Länder auseinanderzubringen. Entscheidend ist hier die Lösung der Kaschmir-Frage, zu der es allerdings erst kommen kann, wenn es keine Dschihad-Gruppen mehr gibt.

Sind Sie dennoch optimistisch?

Auf alle Fälle. Ich glaube daran, dass Leute zur Vernunft kommen, wenn sie an den Rand des Abgrunds gelangt sind. „In dunklen Zeiten beginnt das Auge zu sehen“, hat ein Dichter geschrieben. In Indien – und ich nehme an, auch in Pakistan – gibt es genügend Menschen, die nicht von der Gewalt fasziniert sind und die weiter auf das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens zusteuern.

Sudhir Kakar (1938 geboren in Nainital, Indien) ist Religionswissenschaftler und Psychoanalytiker. Er lehrte an den Universitäten Harvard, Princeton, Chicago, Wien und Melbourne.


Das Gespräch führte Caroline Fetscher.

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