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In der Dachkammer. Lea van Acken spielt Anne Frank.

© Universal/dpa

Interview Hans Steinbichler zum Film über Anne Frank: „Sie sollte wie eine Distel sein“

Der ewige Weltbestseller: Regisseur Hans Steinbichler über seine Verfilmung von „Das Tagebuch der Anne Frank“.

Hier der Anne-Frank-Fonds, der Anne Franks geistiges Erbe schützt, dort die Produzenten und an dritter Stelle Regisseur Hans Steinbichler: Bei der Produktion des ersten deutschen Kinofilms über Anne Frank hat es, wie nicht zuletzt im jüngsten „Spiegel“ nachzulesen stand, heftige Spannungen gegeben. Hierbei ging es offenbar um konzeptionelle Fragen zur Geschichtstreue der dargestellten Figur, zur möglichen Aktualisierung des Stoffs, aber auch um dramaturgische Fragen, etwa das Ende betreffend. Wir wollten Hans Steinbichler aktuell Gelegenheit geben, sich zu diesen Kontroversen zu äußern; im Ergebnis hat er es jedoch vorgezogen, alle konkret den Anne-Frank-Fonds betreffende Passagen zurückzuziehen. (Die Red.)

Herr Steinbichler, wie schwierig ist es, einen Stoff wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ mit der notwendigen historischen Genauigkeit, aber auch einer gewissen künstlerischen Freiheit umzusetzen?
Es ist eine Gratwanderung. Zum einen wiegt der Umstand sehr schwer, dass wir es in dieser Geschichte ausnahmslos mit Opfern des Holocaust zu tun haben. Das heißt, dass Genauigkeit in diesem Falle auch Integrität von Personen bedeutet. Zum anderen musste das Tagebuch der Anne Frank nach meiner Ansicht der Historisierung wie auch der Politisierung entwunden werden, um für eine neue Generation einen neuen Zugang zu finden. Das hieß für mich, die künstlerische Freiheit radikal in Anne zu investieren. Sie weiter zu denken, sie zu interpretieren, ja sogar das Tagebuch weiter zu schreiben und sie immer in einen Kontext zu stellen, der das Hier und Heute berührt und sie nicht in der Historie, und sei diese noch so genau, verschwinden und entschwinden zu lassen. Dieser Film will das Bild eines Menschen entstehen lassen, die Historie ist eine Kontur.

Was macht die Qualität von Anne Franks Tagebüchern aus, die auch nach über 70 Jahren nichts von ihrer Wirkung als Zeitdokument eingebüßt haben?
Die Schärfe der Beobachtungsgabe, das Sezieren von Beziehungen und immer wieder – etwa wenn Anne über die Rolle der Frau oder den Zustand der Welt schreibt – Momente, die so modern sind, dass man sich fragt, wie ein Mädchen in dem Alter und in dieser Zeit das hinbekommen kann. Die Wirkung des Buches wird durch dieses überraschend Moderne bestimmt – und dadurch, dass man weiß, dass dieses Mädchen von den Deutschen am Ende ermordet wurde.

Anne Frank ist auch eine Ikone. Jeder kennt ihr Bild, auch wenn vielleicht nicht jeder ihre Tagebücher gelesen hat. Wie geht man als Filmemacher damit um?
Ein Mythos kann ein großes Hindernis sein und dazu führen, dass eine historische Figur missbraucht wird. Meine Herangehensweise war es, genau diesem Mythos nicht zu dienen, sondern zurück zu den Wurzeln zu gehen: Ich wollte anhand dieses in vielerlei Hinsicht einzigartigen Textes allein die konkrete Geschichte dieses Mädchens zeigen. Hier ist ein Mensch in seiner unglaublichen Zerrissenheit, in seinem Wachsen, im Erwachen der Sexualität, oft verzweifelt und mit all den Gefühlen, die jeder kennt. Und dieses normale Leben wurde ihr einfach geraubt. Ich wollte die Figur nicht überhöhen. Je mehr man Anne Frank als normales Mädchen zeichnet, umso schmerzhafter ist ihr Tod.

ARCHIV - Der deutsche Regisseur Hans Steinbichler gestikuliert am 20.06.2011 in München (Oberbayern) während einer Pressekonferenz. Foto: Marc Müller/dpa (zu dpa "Regisseur Steinbichler: Anne Franks Tagebuch war 'der reinste Gossip" vom 29.06.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++
ARCHIV - Der deutsche Regisseur Hans Steinbichler gestikuliert am 20.06.2011 in München (Oberbayern) während einer Pressekonferenz. Foto: Marc Müller/dpa (zu dpa "Regisseur Steinbichler: Anne Franks Tagebuch war 'der reinste Gossip" vom 29.06.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++

© picture alliance / dpa

Aber zugleich scheint sie emotional und intellektuell ihrem Alter oft weit voraus.
Es gibt Stellen in dem Buch, an denen man sich einfach nur wundern kann. Da stehen Sätze für die Ewigkeit. Anne Frank hatte genialische Momente. Wenn sie überlebt hätte und man ihre mögliche Entwicklung weiterdenkt, wäre Anne Frank heute sehr wahrscheinlich eine Geistesgröße unseres Landes. Eine Frau vom Format einer Gräfin Dönhoff, die unbeirrbar ihren Weg geht und eine Haltung und vor allem ein Frauenbild verkörpert, das sehr modern ist.

Wie wichtig war es Ihnen, auch Anne Franks unsympathische Seiten zu zeigen?
Zur Entmythologisierung gehört auch, dass Anne Frank im Film nicht ein Mädchen sein sollte, das alle gleich in den Arm nehmen wollen. Sie sollte vielmehr und ihrem Wesen entsprechend wie eine Distel sein. Mir war es wichtig, dass man mit der Figur erst nach und nach warm wird. Ich wollte Anne Frank in ihren Widersprüchen zeigen, denn es ist unsere Aufgabe, Menschen unterschiedslos wahrzunehmen und zu lieben.

Wenn man an eine Anne-Frank-Verfilmung denkt, hat man das Leben in einem dunklen Versteck vor Augen. Ihr Film ist überraschend licht ausgefallen.
Ein Film, der vornehmlich im Innenraum eines Verstecks stattfindet, braucht eine Lichtdramaturgie. Wir wollten alle emotionalen Schattierungen hereinholen, die mit dem Eingesperrtsein zusammenhängen. Die Kontraste sollten die Empfindungen der Figuren widerspiegeln.

Es gab ja schon einige Anne-Frank-Verfilmungen vor allem im englischen Sprachraum. Warum war es an der Zeit, dass sich eine deutsche Produktion dieser Geschichte annimmt?
Das ist in der Tat ein entscheidender Aspekt, da ich bei diesem Thema natürlich eine ganz andere Perspektive einnehme, als dies ein Steven Spielberg tun würde. Als deutscher Regisseur kann man hier nicht so tun, als verfilme man irgendeine Geschichte, die sich vor siebzig Jahren ereignet hat.

Sie gehören zur Enkelgeneration der Täter. Hat diese Generation einen klareren Blick auf die Geschichte?
Meine Generation kann mit einem Abstand auf den Nationalsozialismus blicken und durfte sehr viel darüber lernen. Sie hat, so hoffe ich zumindest, einen schärferen Blick, ist aber nicht entbunden von Scham und Schuldgefühlen. Auch wenn es manchmal heißt, es gäbe keine Kollektivschuld: Ich empfinde sie.

Sie erzählen Anne Franks Geschichte über das Tagebuch hinaus und zeigen etwa auch die Verhaftung. Wie nah sind diese Szenen an der Wirklichkeit?
Mein Wunsch war es, die Geschichte von Anne bis zu ihrem Tod zu erzählen. Was die Verhaftung angeht, ist die Quellenlage sehr gut. Der österreichische Gestapo-Mann Karl Silberbauer hat einen sehr detaillierten Bericht geschrieben und sich später auch dazu geäußert. Dann gibt es mündliche Überlieferungen von Teilen der Familie und schließlich den Bericht ihres Vaters Otto Frank, der ja als einziger den Holocaust überlebt hat. Die erste Frage bei der Verhaftung war tatsächlich: „Wo ist ihr Geld?“ Die Gefangennahme ging mit einer sachlichen Ruhe vonstatten, die die Situation noch unerträglicher macht.

Deutschland heute ist deutlich polarisiert: hier die fremdenfeindliche Pegida-Demonstrationen und dort ein großes Engagement für Flüchtlinge. Wo situieren Sie Ihre Verfilmung in dieser Situation?
Unser Film steht jetzt nur zufällig in dieser politischen Landschaft. Wir haben mit der Produktion viel früher begonnen. Ich glaube, dass sich der Film in der Mitte unserer Gesellschaft verortet. Er erzählt im Grunde die Geschichte einer Deutschen, die in die Niederlande geflüchtet ist und mit großer Mühe und der Hilfe von Niederländern, Österreichern und auch Deutschen versteckt wurde. Der Film hinterfragt das Bild vom Flüchtling als Ausländer und zeigt, was Leute unter deutlich größerer Gefahr für ihre Mitmenschen zu tun bereit sind. Er ist vor allem erzählerisch angelegt und will daher ein breites Publikum erreichen.

Die Rezension zum Film ist bereits während der Berlinale (16.2.) erschienen.

Zur Person: Hans Steinbichler, geboren 1966 und aufgewachsen in Österreich, ist seit 2003 („Hierankl“) als Spielfilmregisseur aktiv. Weitere Titel: „Winterreise“, „Das Blaue vom Himmel“.

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