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Karahasan

© dpa

Interview: "Karadzic ist nur noch ein Gespenst"

Ein Gespräch mit Dževad Karahasan, dem bekanntesten bosnischen Schriftsteller, über die Verhaftung von Radovan Karadzic.

Herr Karahasan, Sie haben als Schriftsteller und Universitätsprofessor in Sarajevo ab 1992 die Belagerung der Stadt und die Schrecken des Balkankrieges miterlebt. Ist die Verhaftung Radovan Karadzics auch für Sie der „historische Moment“, als den sie westliche Politiker bezeichnen?

Ich bin kein Historiker, ich bin Schriftsteller. Emotional bewegt mich die Verhaftung fast gar nicht. Sie hat heute nur noch einen symbolischen Wert. Wenn Karadzic und demnächst wohl auch Mladic in Den Haag vor Gericht stehen werden, dann kommt das Geschehene immerhin noch mal vor der Welt zur Sprache, und das wirkt hoffentlich zurück, auf Serbien, vielleicht auch auf den Westen, der nicht nur den Gräueln in Ex-Jugoslawien jahrelang tatenlos zugeschaut hat. Auch hätte man Karadzic und Mladic viel früher verhaften können.

Der Westen und die langjährige Strafverfolgerin Carla del Ponte in Den Haag haben immerzu darauf gedrängt.

Seit 1995 bestimmt die Nato in Bosnien alles, was dort geschieht. Man wusste jahrelang, wo Karadzic war, und hätte ihn festnehmen können. Ich frage mich: Warum gerade jetzt? Wahrscheinlich liegt es an der neuen serbischen Regierung unter Ministerpräsident Tadic, doch vieles bleibt noch im Dunkel. Und die westliche Politik gegenüber Bosnien ist mehr als widersprüchlich.

Inwiefern?

Man klagt die Täter an, aber lässt die Folgen ihrer Taten bestehen. Natürlich wird durch einen Prozess keiner der Toten wieder lebendig, wird kein Verstümmelter wieder heil, kein Vertriebener kehrt zurück. Schon darum besteht für mich kein Grund zur Freude. Der holländische UN-Offizier, der Srebrenica an Mladic übergab und mit ihm vor den Kameras anstieß, wurde in Holland am Ende sogar befördert. Aber viel schlimmer ist, dass die absurde, nationalistische serbische Teilrepublik Srpska in Bosnien-Herzegowina mit westlichem Segen weiterexistiert und dass die Lage im Land auch 13 Jahre nach Kriegsende so ist, dass alle jungen Leute, alle meine Studenten nur eines wollen: weg ins Ausland!

Hat Ihre zurückhaltende Reaktion vor allem damit zu tun, dass die Verhaftung so spät kommt? Wenn man die Fotos von Karadzic sieht, denkt man: Das ist nicht mehr der verdammte Kerl von damals, sondern nur noch ein Gespenst.

Ja, er ist ein Gespenst. Aber er war schon früher nur eine kleine Figur, die die geschichtlichen Umstände kurz nach oben spülten. Leute in Sarajevo, die ihn gut kannten, sagen, er war nicht der geborene Bösewicht, er war sogar ein ganz guter Arzt – nur kein guter Dichter! (Lacht.)

Ist er für Sie kein Mörder?

Ich glaube schon. In seinem Namen sind Massenmorde, Massenvergewaltigungen, Massenvertreibungen geschehen. Aber er war ein kleines Licht, das von anderen angezündet wurde. Milosevic und ein paar Generäle wurden angeklagt, doch die vielen Schreibtischtäter, Kriegsgewinnler und hetzenden Ideologen bleiben unbehelligt. Sie sitzen weiter in Ex-Jugoslawien in Staatsapparaten, Universitäten, Akademien und den Medien.

Gäbe es eine realistische Alternative?

Ich weiß es nicht. Die nötige ethische und praktische Revolution scheitert nicht nur auf dem Balkan an den Kompromissen des täglichen Lebens. Dieses Leben muss irgendwie weitergehen. Deswegen bin ich Schriftsteller, denn in der Literatur muss ich keine Kompromisse machen. Als Autor darf ich über mich urteilen, die anderen aber muss ich verstehen. Auch die größten und kleinsten Schurken.

Das Interview führte Peter von Becker.

Dževad Karahasan, geb. 1955, ist heute der bekannteste bosnische Schriftsteller (sein jüngster Roman: Der nächtliche Rat). Er war zuletzt Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs.

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