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Interview mit Claudio Abbado: Stille hilft, die Gedanken zu vertiefen

Claudio Abbado verabschiedet sich von Berlin mit drei Konzerten. Zu seinem letzten Auftritt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker spricht er über sein wahres Zuhause, die Stille und warum er nicht wirklich Abschied von Berlin nimmt

Claudio Abbado, 69, zählt zu den bedeutendsten Dirigenten der Nachkriegszeit. In einer Mailänder Musikerfamilie aufgewachsen, wird er in Wien zum Dirigenten ausgebildet. 1960 debütiert er an der Mailänder Scala, die er von 1968 bis 1986 leitet. 1979 beruft ihn das London Symphony Orchestra zum Musikchef, von 1986 bis 1991 ist er Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper. Die Berliner Philharmoniker, die Abbado 1966 erstmalig leitete, wählen ihn 1989 zum Nachfolger Herbert von Karajans. Von dieser Position verabschiedet er sich ab heute mit drei Konzerten in der Philharmonie, sein letzter Auftritt als Chefdirigent der Philharmoniker findet am 12. Mai in Wien statt.

Bei einer Pressekonferenz während der Südamerika-Tournee mit den Berliner Philharmonikern wurden Sie nach den drei Dingen für die einsame Insel gefragt - und Sie antworteten: "Nur ein Messer, um mir ein Floß zu bauen, mit dem ich nach Hause fahren kann." Wo ist zuhause für Sie?

Eigentlich ist mein wahres Zuhause tief in mir drin.

Gibt es auch einen konkreten Ort?

Mein Haus im Fextal. Dort herrschen Ruhe und Frieden, dort wird mir immer wieder der Sinn des Lebens bewusst. Hier kann ich arbeiten, nachdenken. Ich verbringe viele Wochen des Jahres dort, und in Zukunft werden es noch mehr sein. Ich habe bereits meine Bücher dorthin bringen lassen.

Bei Ihrer Literatur-Begeisterung brauchen Sie viel Platz...

Es ist ein altes Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. Kurt Tucholsky hat 1926 dort gewohnt. Es ist wirklich ein magischer Ort. Auch Nietzsche hat das gespürt, er hatte ein Haus ein wenig weiter unten in Sils-Maria. Viele seiner Schriften sind dort entstanden. Und dann gibt es da ja auch den berühmten Zarathustra-Stein, an der Stelle, wo Nietzsche die Idee der ewigen Wiederkehr kam, der Text, den Mahler dann in seiner dritten Sinfonie musikalisch verwendet hat.

Wie haben Sie diesen Ort entdeckt?

Maximilian Schell, mit dem ich seit langem befreundet bin, hat mich auf diesen Ort aufmerksam gemacht.

Worüber denken Sie nach dort im Fextal?

Zum Beispiel über die wunderbare Harmonie mit den Berliner Philharmonikern, die sich zum Ende dieser zwölf Jahre in Berlin eingestellt hat. Das war am Anfang keineswegs so. Es gab unterschiedliche Auffassungen, es gab Konflikte. Aber jetzt haben wir zueinander gefunden, die vielen jungen Musiker, die in den letzten Jahren zum Orchester gekommen sind, aber auch jene, die schon eine sehr lange Erfahrung bei den Philharmonikern haben. Gemeinsam haben wir einen neuen Klang entwickelt, mit dem es möglich ist, alles zu spielen, vom Barock bis zu ganz neuen Werken.

Das Ende Ihrer Amtszeit als Chefdirigent ist kein Abschied von Berlin...

nein, es gibt diverse Projekte. Es wird eine Tournee nach Prag, Budapest, St. Petersburg und Moskau geben. Und dann gibt es natürlich dieses großartige Vorhaben für ein neues Orchester in Luzern, bei dem auch ehemalige Mitglieder der Philharmoniker dabei sein werden. Die Großzügigkeit des Lucerne Festival ermöglicht dieses Projekt, so wie es dort auch früher schon mal unter Arturo Toscanini stattgefunden hat. Das Entscheidende ist, dass wir weiterhin zusammen musizieren. Das war immer mein Ziel - unter welchem Namen, ist ohne Bedeutung.

Als Italiener nach Berlin zu gehen - kann man da von einem Exil sprechen?

So ein Begriff existiert für mich nicht. Ich war ja lange in London, in Wien, für mich gab es immer nur Europa. In Amerika dagegen bin ich nie länger als zwei, drei Monate gewesen, dann fehlte mir Europa zu sehr. So sehr der Mensch auch dazu tendiert, alles zu zerstören, die großen untergegangenen Kulturen, die griechische, die römische, sind überall in Europa spürbar. Denken Sie nur an die Leidenschaft deutscher Künstler für die Antike, zum Beispiel bei Hölderlin.

Wenn der Zerstörungstrieb des Menschen nicht zu stoppen ist, wird irgendwann auch die Kultur des Humanismus zu Ende sein?

Es gibt nie ein Ende, es geht immer weiter. Wie viele haben immer wieder behauptet, die Musik sei am Ende: zu Debussys Zeiten, bei Mahler, bei Schönberg. Es wird immer Neues geben.

Spürte nicht der Komponist Luigi Nono, einer Ihrer engsten Freunde, in seinen letzten Lebensjahren ein Ende der Musik, als er sich immer mehr auf die Stille konzentrierte?

Im Gegenteil: Er wollte wieder die Bedeutung jedes einzelnen Tons klar machen, wollte der Pause, der Stille zwischen zwei Tönen ihren Wert zurückgeben. Das gibt es schon bei Schubert. Auch bei Mahler hat die Stille oft mehr Gewicht als der Klang davor. Stille hilft, Gedanken zu vertiefen.

Wer Partituren so intensiv studiert wie Sie, muss sich damit abfinden, nur einen kleinen Teil des Repertoires in seinem Leben kennen lernen zu können.

Wenn man bedenkt, was genialen Komponisten alles durch den Kopf ging - selbst der aufmerksamste Leser der Partituren wird immer nur einen Teil dessen erkennen können. Sich einem Werk zu nähern, ist ein langer Prozess. Man muss die Demut aufbringen, einzusehen, dass es ein Lernen ohne Ende ist.

Wie treffen Sie Ihre Auswahl?

Wenn Musiker sagen: Ich spiele alles - was soll denn das heißen? Es bedeutet: Sie machen nichts richtig. Die Auswahl der Werke, mit denen man sein Leben verbringen möchte, ist ein Riesenproblem. Zum Glück habe ich Freunde wie Maurizio Pollini, die vieles für mich entdecken.

Wenn Sie spüren, dass das Publikum unaufmerksam ist, was geht in Ihnen vor?

Der Dirigent spürt das sofort, wenn das Publikum gepackt ist, wenn alle gebannt lauschen. In Berlin ist mir das besonders häufig passiert. Die Stille am Ende von Mahlers 9. Sinfonie und anderen tief gehenden Kompositionen, die Sekunden zwischen dem letzten Ton und dem Applaus - das sind große Momente für mich gewesen.

Auch hier wieder: die Stille als wertvolles Gut in der Musik!

Stille wahren zu können, bedeutet, besonders intensiv zugehört zu haben.

Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie sich entschieden haben, in bestimmten Städten nicht mehr aufzutreten, weil das Publikum nicht bereit war, sich zu konzentrieren?

Ja, mehrfach. Aber die Namen der Städte verrate ich nicht!

Man sagt gerne von Wien und München, dass man hier die Musik besonders liebt.

In Wien gibt es zweifellos ein hohes Kulturniveau - aber auch einen extremen Konformismus. Was habe ich für Kämpfe ausfechten müssen, um das "Wien Modern"-Festival auf die Beine zu stellen! Der Stolz auf die Tradition ist etwas, das ich respektiere. Doch wenn man genau hinschaut, haben die Wiener gegen jeden Front gemacht, der etwas Neues wagen wollte, von Mahler und Schönberg bis zu Thomas Bernhard.

Sie hatten nie Angst vor Widerstand, weder in Wien noch in Ihrer Position als Chefdirigent der Mailänder Scala.

Ich bin kein Politiker, ich habe nur immer das getan, wovon ich als Künstler überzeugt war. Als ich die Scala für Schüler öffnete, als wir in den Fabriken Konzerte gaben, haben Rechte wie Linke damit spekuliert, die Tatsache zu ihrem Vorteil auszulegen versucht. Dabei ging es nur darum, Musik der ganzen Bevölkerung zugänglich zu machen. Als ich nach Berlin kam, hat man mich gefragt: Warum machst du das nicht auch hier? In Mailand, in Wien waren diese Aktionen nötig, um das Publikum zu öffnen, in Italien für die Klassik an sich, in Österreich für die Moderne. In Berlin gibt es das alles bereits, ein Publikum, das nicht nur Society ist, junge Leute in den Aufführungen. Der Erfolg, den Nonos Werke in Berlin gehabt haben - in anderen Städten undenkbar!

In der Öffentlichkeit gelten Sie als großer Schweiger.

Ich konnte mich immer besser beim Musizieren ausdrücken als mit Worten. Andererseits genieße ich es, mit Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker zusammenzutreffen oder mit Michail Gorbatschow. Als ich mit dem Mahler Chamber Orchestra auf Kuba war, hatte ich eine faszinierende Begegnung mit Fidel Castro. "Was für ein Wahnsinn, Geld für Waffen auszugeben", sagte er. "Worum es geht, ist, dass sich die Kulturen kennen lernen." Ich sehe mit Freude, dass sich seit der Lockerung des Embargos der Austausch auf kulturellem Gebiet verbessert. 2004 wollen wir wieder auf Kuba spielen.

Orchestermusiker reagieren oft wie Handwerker: Sie wollen, dass man mit ihnen ausschließlich über die Details der technischen Umsetzung von Partituren spricht.

Bei den Berliner Philharmonikern treffen Sie eher auf das umgekehrte Problem: Da sitzen so viele großartige Musiker, und jeder hat seine eigene Persönlichkeit. Für den Dirigenten kommt es darauf an, diesen Persönlichkeiten Entfaltungsfreiheit zu lassen und gleichzeitig das Kollektiv davon zu überzeugen, dass man die Partitur am besten kennt, am längsten darüber nachgedacht hat, wie das Stück zu interpretieren ist.

Sie gelten allerdings nicht gerade als despotisch, reden sehr wenig bei den Proben...

Was zählt, ist doch die Aufführung. Und da haben Sie nur die Hände und die Augen, um zu kommunizieren. Dann muss sich dieser Magnetismus einstellen, die Spannung, die sich aufs Orchester überträgt. So bin ich gemacht, es ist mir angeboren. Darum versuche ich, mein Bestes während der Konzerte zu geben, mehr als ich in den Proben geben kann - das ist nicht vom meinem Willen abhängig, dass ist einfach so...

Sind bei Ihnen die Augen wichtiger oder die Hände?

Das Wichtigste ist, in sich die Sicherheit zu spüren, das, was man vermittelt, tief zu empfinden. Das ist in der Musik wie im Leben: Je tiefer jemand in eine Sache vorgedrungen ist, desto besser kann er seine Überzeugung auf andere übertragen.

Schlagtechnik spielt eine Nebenrolle?

Eine gute Technik vereinfacht die Sache, aber letztlich zählt sie nicht viel. Es gibt viele Dirigenten mit brillanter Technik, die wenig zu sagen haben.

Von Arnold Schönberg ist bekannt, dass er manchmal nach zehn Proben entschied, die Aufführung abzusagen, weil sich das Stück noch nicht zum Ganzen geformt hatte. Kennen Sie solche Gedanken?

Sehr gut sogar - aber der Konzertbetrieb lässt es leider nicht zu. Es kommt vor, dass Stücke erst nach vielen Aufführungen so gut sind, wie man sie sich wünscht. Wie oft haben wir die Mahler-Sinfonien gespielt, auf Tourneen und in Berlin, und immer ist das Orchester daran gewachsen.

Wenn man sich anschaut, welche Opern Sie in letzter Zeit dirigiert haben, fällt auf, dass sie eher die intellektuellen Werke der Komponisten bevorzugen.

Ich würde in diesem Zusammenhang nicht von Intellektualität sprechen, sondern von musikalischem, dramatischem Wert, nach dem ich die Stücke aussuche. Wenn ich die Wahl habe, mache ich von Verdi natürlich lieber "Don Carlos" als "La forza del destino". Bei aller Schönheit der "Forza", "Don Carlos" ist einfach tiefer.

Aber Erfolg hat man leichter mit "Forza".

Erfolg war nie mein Ziel. Wenn das Werk gut ankommt, bin ich glücklich, keine Frage. Doch letztlich interessieren mich nur Werke, die sich nicht sofort erschließen. So wunderbar viele Hits von Puccini sind, ich ziehe aus der Zeit dann doch Debussys "Pelléas et Mélisande" vor.

Würden Sie dieser Definition zustimmen: Ziel des Künstlers ist es, seine Wahrnehmung immer weiter zu verfeinern?

Sicherlich. Das "Glück" meiner Krankheit war - wenn man es so sagen darf, dass ich die Dinge nun auf eine neue, tiefere Weise sehe. Ich empfinde alles viel intesiver als früher. Wer mit leerem Magen arbeitet, fühlt sich leichter - ist doch logisch! Sehr hat mir darum gefallen, was Gabriel Garcia Márquez geschrieben hat, der ebenfalls wegen Magenkrebs operiert werden musste: "Mein größtes Glück war diese Operation. Jetzt muss ich nie mehr zu Empfängen bei Botschaftern gehen. Ich antworte nur noch Freunden, die ich sehen möchte. So habe ich viel mehr Zeit zum Schreiben." Genauso ist es. Ich kann mich jetzt auf die Dinge konzentrieren, die mich wirklich interessieren.

Ihre Fans werden es mit Erleichterung hören!

Einfach ist es in letzter Zeit für mich sicher nicht gewesen. In den ersten Wochen nach der Diagnose aber waren zum Glück wunderbare Menschen um mich, dann hatte ich ausgezeichnete Ärzte. Und es dauerte eine Weile, bis ich den neuen Rhythmus fand.

Haben Sie durch Ihre Krankheit einen neuen Blick auf "Parsifal" gewonnen, auf Amfortas?

Sicherlich sehe ich ihn und seine Leiden jetzt mit anderen Augen. Aber was mich noch mehr interessiert an dem Stück, ist Wagners Öffnung hin zu allen Religionen der Welt. Es geht ihm nämlich keineswegs um ein Abbild der christlichen Lehre. Wagner hat zum Beispiel genau beschrieben, wie er sich die Glocken für die Zeremonien vorstellte: nämlich an orientalischen Modellen orientiert. Die Schaffung einer rituellen Ebene, die diverse Religionen verschmelzen, das ist der interessante Kern am Parsifal. Wagner war ein großer Revolutionär, und - abgesehen von einigen fragwürdigen Schriften - auch ein großer Humanist.

Nach einem frühen "Lohengrin" sind Sie erst jüngst mit "Tristan" und nun "Parsifal" als Wagner-Dirigent hervorgetreten.

Wagners Musik lernte ich schon als Kind kennen und lieben, in Konzerten habe ich regelmäßig sinfonische Ausschnitte aus den Musikdramen präsentiert. Was szenische Produktionen betrifft, war die Zeit für mich eben erst jetzt reif.

Folgt als nächstes dann "Der Ring des Nibelungen" von Claudio Abbado?

Warum nicht! Zu spannenden Projekten habe ich nie Nein gesagt.

Was wird Sie sonst in Zukunft beschäftigen?

Wagner sicher immer mehr. Obwohl ich Debussy sehr liebe, mache in diesem Jahr tatsächlich zum ersten Mal "La mer".

Es überrascht, dass jemand wie Sie nach so vielen Jahren der Karriere noch mit einem Schlüsselwerk debütiert!

Ja, weil ich eben nie eine "Karriere" hatte. Es war immer eine Entdeckungsreise.

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