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Die Autorin und Regisseurin Helene Hegemann, 25, aus Berlin.

© Thilo Rückeis

Autorin Helene Hegemann: "Männliche Ideen sind im Kino überpräsent"

Helene Hegemann hat ihren Debütroman verfilmt. „Axolotl Overkill“ startet am Donnerstag. Ein Gespräch über ungewöhnliche Frauenfiguren, Queerness, Tiere und die Volksbühne.

Frau Hegemann, Ihr Debütroman „Axolotl Roadkill“ ist 2010 erschienen. Sie haben inzwischen noch einen weiteren Roman geschrieben. Wie war es, Ihre Protagonistin Mifti und die anderen Figuren jetzt für den Film wiederzutreffen?

Ich habe schon relativ bald nach der Veröffentlichung damit begonnen, das Drehbuch zu schreiben. Deshalb war der Dreh keine Rückkehr zu den Figuren. Die waren ja die ganze Zeit irgendwie präsent gewesen, bis dahin, dass ich echt genervt war von denen. Das war aber gar nicht schlecht, weil ich dadurch gezwungen war, alles noch mal umzuwerfen und darüber nachzudenken, was das Fundamentale an diesen Charakteren ist und was mich an ihnen wirklich interessiert.

Mifti ist eine sehr eigenständige, ungewöhnliche 16-Jährige, die lieber feiern als in die Schule geht. Solche Frauenfiguren sieht man – zumal im deutschen Kino – eher selten. Welche Vorbilder und Inspirationsquellen gab es für Sie?
Es gab eine filmische Inspirationsquelle, die eher die Struktur betrifft. Das war „Permanent Vacation“ von Jim Jarmusch. Der Protagonist ist in einem ähnlichen Alter, driftet durch die Stadt, schaut sich Leute an, dreht auch mal selber durch. Aber darum geht es nicht, nur um seine Passivität. Dem passiert nichts, der läuft halt einfach rum. Vorbilder für Mifti waren aber eher Schurken aus Fünfziger-Jahre-Krimis. Also Männer zwischen 40 und 60.

Generations- und Gendergrenzen scheinen für Mifti ohnehin nicht zu existieren. Sie feiert und schläft, mit wem sie will. Das macht sie zu einer genuin queeren Figur. Sehen Sie das auch so?
Absolut. Das liegt auch daran, dass Jasna Fritzi Bauer, die Mifti spielt, eine Grund-Queerness verkörpert. Sie sieht zwar sehr mädchenhaft aus, aber gleichzeitig auch wieder wie ein Junge. Genau das mag ich an ihr: Sie wirkt nicht in erster Linie androgyn. Vielmehr überschreitet sie die Grenzen beider Geschlechter. Sie vereint in sich das männlichste und das weiblichste Extrem, anstatt sich in dem Raum dazwischen aufzuhalten. Das empfinde ich als äußerst queer. Deutlich queerer im Übrigen als wenn man eine Person besetzt hätte, von der man nicht recht weiß, ob sie ein Junge oder ein Mädchen ist.

Wobei sich diese Queerness nicht auf Mifti beschränkt. Auch Ophelia und ihre deutlich ältere Geliebte Alice kann man dazuzählen.
Und auch die Sexyness, die Alice für Mifti ausstrahlt, ist ja keine stereotyp weibliche. Das hat eher etwas Keith-Richards-mäßiges.

Mifti trägt meist ein T-Shirt, auf dem in Kyrillisch Nadryw steht. Es ist ein schwer zu übersetzender vor allem durch Dostojewski bekannt gewordenen Begriff, der etwas wie Überspanntheit oder Schmerzekstase bedeutet. Ist das Miftis Zustand?
Nicht nur ihrer, das ist der Grundzustand aller Teenager, die nicht völlig abgestumpft sind. Swetlana Geier, die die neuen Dostojewski-Übersetzungen gemacht hat, hat den Begriff unübersetzt gelassen. Es beschreibt den kurzen Moment, bevor etwas aufreißt. Eine Art melancholische Ruhe vor dem Sturm, der Moment, bevor sich etwas ändert, eine Grenze überschritten wird. Außerdem stand „Nadryw“ an der Fassade der Volksbühne. Chef-Bühnenbildner Bert Neumann hatte das Banner dort kurz vor seinem Tod aufziehen lassen.

Es gibt noch weitere Verweise auf die Volksbühne in „Axolotl Overkill“. So zitieren Sie im Film Frank Castorf und René Pollesch, ein Volksbühnen-Streichholzbriefchen geht in Flammen auf. Wie sehen Sie das Vertragsende von Castorf und die Berufung von Chris Dercon?
Ich finde es furchtbar. Eine absolute Vollkatastrophe. Zumal die Entscheidung, diese Ära so zu Ende gehen zu lassen, aus Dummheit und Faulheit resultiert. Es wurde jemand berufen, der zu wenig Ahnung hat, um auch nur im Ansatz aufrechtzuerhalten, wofür dieses Haus steht. Das beste Theater des Landes zugunsten von Marktstrategien aufzulösen, ist einfach ein Irrsinn. Dabei war das Haus in den letzten drei Jahren immer ausverkauft. Eben weil dort künstlerisch sehr viel Aufregendes passierte. Das Ganze ist traurig und blöd, aber natürlich auch kein Weltuntergang. Die Leute sind ja alle noch da und sie werden weiterarbeiten.

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Werden Sie sich anschauen, was unter Dercon an der Volksbühne geschieht?

Nein. Von dem, was bisher angekündigt wurde, hat mich nichts interessiert. Außerdem sind viele der Sachen ja schon an anderen Orten gezeigt worden. Das ist keine Verweigerung gegenüber einem Menschen, sondern gegenüber einem langweiligen Programm.

Zurück zu Ihrem Film, der einen sehr besonderen, fast traumverlorenen Rhythmus hat. Das ergibt sich aus einer nicht linearen Erzählweise. War diese Struktur schon so im Drehbuch angelegt oder ist sie erst im Schnitt entstanden?
Der Aufbau ist ziemlich nah am Drehbuch. Allerdings sind einige Szenen rausgeflogen, die das Ganze weniger verwirrend gemacht hätten. Genau deshalb mussten sie dann auch raus. Szenen, die nur dazu da sind, die Zusammenhänge zu erklären, hätten das Filmerlebnis geschmälert. Es gibt Rückblenden, die nicht als solche markiert sind, die ein bisschen kompliziert auszumachen sind, aber die Irritation ist da dann wichtiger, als dass bloß alle alles verstehen.

Dazu kommen extreme Sprünge.
Ja, an Stellen, wo man erwarten würde, dass es jetzt richtig losgeht, wird schon wieder weggeschnitten. Außerdem wird keine Szene so aufgelöst, dass man als Zuschauer weiß, was man fühlen soll. Dir wird nicht geholfen zu beurteilen, ob du da grade eine traurige oder lustige Szene siehst. Mich selber stört es als Zuschauerin, wenn dramatische Szenen mit Hilfe von altbewährten Stilmitteln so stark aufgeladen und markiert werden, dass man selber gar keinen Raum mehr hat, traurig zu sein. Wenn es weniger plakativ zugeht und man sich die Emotionalität ein bisschen erarbeiten muss, fühlt man am Ende unter Umständen mehr. Bei mir haben immer die Filme am meisten ausgelöst, die ich nicht komplett verstanden habe.

Was waren das für Filme?
Godard zum Beispiel. Da saß ich als Teenager oft davor und dachte: Was zur Hölle passiert da? Oder auch Bergman-Filme, die natürlich sehr genau gearbeitet sind. Doch als Jugendliche versteht man die Zusammenhänge nicht und fragt sich bei stundenlangen Ehestreits, was die mit einem selbst zu tun haben sollen. Dadurch, dass sie sich nicht vollständig erschließen lassen, bleiben solche Filme aber hängen. Oder auch Harmony Korine, dessen Filme ich mit 14, 15 gesehen habe und danach dachte, ich kann selber welche machen. „Gummo“ und „Julien Donkey-Boy“ fand ich super. Die haben mich auch wahnsinnig genervt, aber ich fand es gut, dass es diese Art von Grenzüberschreitung gab und man eben nicht immer alles verstehen muss. Das ist natürlich auch ein Volksbühnen-Gebot. Man darf auch mal was nicht verstehen, das ist ja auch im eigenen Leben auch oft so.

Jasna Fritzi Bauer in der Rolle der Mifti. Szene aus "Axolotl Overkill"
Jasna Fritzi Bauer in der Rolle der Mifti. Szene aus "Axolotl Overkill"

© Lina Grün/Constantin)

Unerklärlich in „Axolotl Overkill“ sind die Tiere, die plötzlich auftauchen. Nicht nur das Axolotl, sondern auch Lamas, ein Pinguin ... Wieso wollten Sie die dabeihaben?
Ich dachte immer, sie seien auch schon im Buch gewesen, aber das stimmt gar nicht, wie ich kürzlich feststellte, als ich es noch mal las. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Tiere sehr mag und gern einen Tag am Set mit einem Lieblingstier von mir verbringe. Ein Pinguin in der Altbauwohnung ist schon toll. Es hebt zudem die Stimmung am Set, wenn alle zwischendurch mal ein Lama streicheln können. Die Tiere haben aber auch etwas mit Mifti zu tun. Sie stehen für eine gewisse Traurigkeit und Sehnsucht, denn ein Pinguin in der Wohnung oder ein Axolotl in einer Plastiktüte ist ja im falschen Kontext. Das schreit nach Ausbruch und Befreiung.

Ihr Film hat drei Protagonistinnen, normalerweise sind Frauen aber im Kino immer noch unterrepräsentiert. Woran liegt es, dass sich das so langsam ändert?
Das männliche Übergewicht hängt natürlich damit zusammen, dass die ersten 80 Jahre lang Filme hauptsächlich von Männern gedreht wurden. Es ist deren gutes Recht, ihre Perspektive auf die Welt einzubringen. Was sollen sie auch sonst machen? Wie soll sich ein 60-Jähriger in eine 16-Jährige hineinversetzen, ohne dass das irgendwas mit Sex zu tun hat?

Aber wir sind ja nun im Jahr 2017, und inzwischen gibt es auch Regisseurinnen.
Ja, aber auch Frauen, die selber Filme machen, sind mit den Werken von Männern aufgewachsen. Das heißt, dass ihnen ein bestimmter Blick und eine bestimmte Funktionsweise des Mediums Films aufgedrängt wurde. Du nimmst von den männlichen Ideen und Vorstellung automatisch etwas mit, weil sie so überpräsent sind. Das erklärt, warum es so viele antifeministische Filme von Frauen gibt. Sie behaupten, Kritik an den Verhältnissen zu üben. Doch am Ende sieht man doch wieder nur gedemütigte, heulende oder vergewaltigte Frauen. Hängen bleibt: Sie können sich eben nicht wehren. Nicht in diese Falle zu tappen, habe ich früh gelernt. Übrigens auch an der Volksbühne. Ein großer Teil des Diskurses drehte sich ja darum, dass Geschichten, die man über die Welt erzählt, die Welt prägen – mehr noch als andersrum.

Wie können Frauen die von Ihnen beschriebenen Falle vermeiden?
Wenn sie mal ausnahmslos alle Rollen mit Frauen besetzen würden und zwar, ohne dass es jemandem auffällt. Oder bei Rollen in Drehbüchern die Vornamen austauschen, Heinz heißt dann Karin und Karin heißt Heinz, und das, was für einen Mann geschrieben wurde, wird am Ende kommentarlos von einer Frau gespielt.

"Axolotl Overkill" kommt am Donnerstag in die deutschen Kinos.

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