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Ein politischer Mensch. Oskar Negt (vorne) wird am 1. August 80 Jahre alt.

© dpa

Interview mit Oskar Negt: „Ich sehe keine Ego-Wirklichkeit“

Am 1. August wird Oskar Negt 80. Hier erklärt der Adorno–Schüler und Sozialphilosoph, was dem Wutbürger zum Citoyen fehlt und in welchem Bedürfnis Public Viewing gründet.

Herr Negt, Sie schreiben, das Wort vom „Leben begleitenden Lernen“ sei überstrapaziert, die Sache aber verteidigen Sie. Welchen Stoff eignen Sie sich noch an?
Den meiner Kindheit. Ich möchte etwas über die Flucht aus Königsberg und das Internierungslager in Dänemark schreiben, also über die erste Lebensphase, bis ich 1947 nach Deutschland zurückkam. Meine akademische und politische Geschichte ist in meinen Büchern zu finden. Im Augenblick interessiert mich, wie aus einem Bauernkind, das ein Trauma verkraften musste, etwas wird.

Sie sind auf einem Schlitten geflüchtet, der mit Leichen bedeckt war.
Ich bin mit zwei älteren Schwestern geflüchtet. Wir haben natürlich darüber gesprochen: Springen wir runter oder nicht? Ich war dafür, sitzen zu bleiben, statt zu erfrieren. Wenn es ums Überleben geht, überwindet man den Ekel und nimmt die Dinge als unvermeidlich hin. Ich denke, vor allem das Vertrauen zu meinen Schwestern hat mich später vor Albträumen bewahrt. Das war auch im Lager mein Rückhalt, wo wir als elternlose Kinder registriert waren.

Damals hörten Sie Beethovens Neunte Symphonie zum ersten Mal.
Allein in einem Turm!

War das ein Glücksmoment?
Eher ein Freiheitsgefühl. Eine meiner Schwestern hatte sich gemeldet, um für die Engländer als Köchin zu arbeiten. Sie durfte das Lager verlassen, und ich mitkommen. Sie lernte ihren späteren Mann kennen, der Signalmaat war und Schiffe mit Fähnchen in den Hafen dirigierte. Darum konnte ich mich in diesem Turm aufhalten, wo ich die Neunte von Beethoven hörte, die mich seither begleitet.

Sie fordern „Rastplätze der Reflexion“, um solche Gefühle auch heute zu ermöglichen?
Ja. Diese Rastplätze gehen verloren, es gibt zu viele Geräusche. Bestimmte Erfahrungsgehalte erreichen die Menschen nicht mehr. Aber das ist eine widersprüchliche Angelegenheit, denn gleichzeitig bilden sich neue Erfahrungsmöglichkeiten. Für ältere Menschen ist das entsetzlich, wenn im Zug alle ihre Produktionsmittel aufklappen und man die Kommunikationsinhalte mithören muss. In New York habe ich allerdings erlebt, dass auf den großen Boulevards 20 Leute in die eine Richtung gehen, 20 in die andere – mit gesenktem Kopf, ohne sich anzurempeln. Es bildet sich offenbar das, was Husserl die Horizontwahrnehmung genannt hat. Man nimmt sich wahr, obwohl jeder auf seinen Bildschirm guckt.

Als einst die linke Studentenbewegung Fahrt aufnahm (hier ein Bild aus Bonn vom Sternmarsch 1968), war Oskar Negt als Wortführer dabei.
Als einst die linke Studentenbewegung Fahrt aufnahm (hier ein Bild aus Bonn vom Sternmarsch 1968), war Oskar Negt als Wortführer dabei.

© bpk / Jochen Moll

Adorno, bei dem Sie promoviert haben, sprach seinen Mitmenschen schon damals die Fähigkeit zur Erfahrung ab. Er behauptete, sie seien durch gesellschaftliche Mitmachzwänge zu beschädigt. Warum teilen Sie diese Diagnose nicht?
Weil ich seinen Erfahrungsbegriff nicht teile. Der ist für seine Philosophie zwar zentral, aber Adorno bezieht ihn auf geistige Erfahrungen, auf die Bildungsgehalte der bürgerlichen Gesellschaft und auf Prozesse, in denen das Denken für Augenblicke endet. Deshalb habe ich schon früh versucht, diesen Begriff so zu erweitern, dass er die Arbeiter- und Volksbildung einbezieht. Ich spreche von Erfahrungsräumen als Spielräumen des Denkens, in denen eine Reflexionsbewegung in Gang kommen soll, so dass den Menschen ihre Lebendigkeit bewusst wird. Weil sie begreifen, dass sie auf die Wirklichkeit Einfluss haben können. Und dass sich die Gestaltung der Dinge mit ihrer Selbstgestaltung verschränkt.

"Viele haben mich rechts oder links überholt"

Die Proteste sogenannter Wutbürger der letzten Jahre, zum Beispiel gegen den Bahnhofsumbau in Stuttgart, sah der Theoretiker Negt eher skeptisch.
Die Proteste sogenannter Wutbürger der letzten Jahre, zum Beispiel gegen den Bahnhofsumbau in Stuttgart, sah der Theoretiker Negt eher skeptisch.

© IMAGO

Ist damit die Entwicklung eines Charakters gemeint, die Sie in Ihrem gleichnamigen Buch auch als Weg beschreiben, ein „politischer Mensch“ zu sein?
Wer sich nur über den Kopf politische Parolen angeeignet hat, ist nicht verlässlich in seiner Urteilsfähigkeit. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die mich immer rechts oder links überholt haben. Diese Menschen haben das politische Denken nie so verinnerlicht, dass sie mit Maßverhältnissen arbeiten können. Sie können die Dinge nicht erst auf sich zukommen lassen und dann eine Haltung zu ihnen einnehmen.

Spielen Sie auf die verschwiegene Orthodoxie der Linken an?
Auf die offene Orthodoxie! Weil diese Leute vergessen, dass Theorie nicht eins zu eins in Praxis umzusetzen ist. Theorie ist das, was mir Maßstäbe vorgibt. Dafür ist sie notwendig. Aber sie muss den Abstand zur Praxis halten. Mit Alexander Kluge habe ich diese Überlegungen erweitert in „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und vor allem in „Geschichte und Eigensinn“. Im Übrigen kann diese Orthodoxie dazu führen, dass Menschen sich schnell anpassungsfähig zeigen. Dann bildet sich die Charakterstruktur eines leistungsbewussten Mitläufers heraus.

„Zusammenhänge herstellen!“ gilt Ihnen deshalb als oberstes Lernziel.
Ja. Ich bin sicher, dass nichts so gut vor gravierenden Irrtümern schützt wie eine Bildung, die ich mit den Kategorien der Orientierung, des Lernens, Erfahrens und Wissens verbinde – um Zusammenhänge selbst herstellen zu können. Das meine ich wieder ganz praktisch: Menschen sind sehr wohl fähig, zu begreifen, dass die Aufhebung von Unterdrückung nicht mit einem Handschlag oder einem kurzfristigen Programm erreicht werden kann, sondern dass damit langfristige Lernprozesse verbunden sind.

Dann halten Sie nichts vom sogenannten Wutbürger?
Ich würde ihn öffentlich nicht kritisieren. Sein Protest ist besser als vieles andere. Aber der Wutbürger ist eben noch nicht der Citoyen, der gebildete, umsichtige Bürger. Die Gegenwart ist ja dadurch geprägt, dass die Übersicht verloren geht. Anfang der 80er Jahre kämpften wir noch um die 35-Stunden-Woche und stellten uns vor, dass Arbeit und Freizeit klar getrennt sind. Davon kann keine Rede mehr sein. Die universelle Verfügbarkeit reißt diese Trennungslinie von privat und öffentlich ein.

Welche Rolle spielen dabei die Politiker?
Die kämpfen um ihr politisches Überleben. Selbst wenn sie es gut meinen, sind die Abgeordneten heute in die Dramen um Karriere und Positionen so verstrickt, dass sie das erwähnte Anpassungsverhalten zeigen. Dieser Kampf ist zurzeit derart bestimmend, dass ihre utopische Fantasie häufig völlig ausgetrocknet ist. Und der Eigensinn erstickt.

Eine Eigenschaft, die man eher mit dem Intellektuellen verbindet. Wie würden Sie ihn charakterisieren?
Der Eigensinn gehört tatsächlich dazu, also das Beharren auf Ideen – obwohl die Realität ihnen widerspricht. Schon deshalb muss er die Kritik anderer aushalten. Oder die Nichtanerkennung. Die ist für einen Intellektuellen eigentlich das Schlimmste.

Sind Sie ein Intellektueller?
Ja. Wenn es solche Identitätsmarken gibt, dann halte ich mich selbst für einen politischen Intellektuellen, der mit wissenschaftlichen Argumenten interveniert. Der auf der Grundlage der Vernunft öffentlich reflektiert und dabei alternative Angebote macht. Ich bin auf der Linie von Ernst Bloch, der die Entwurfsfantasie immer als wesentliches Element einer lebendigen Demokratie betont hat. Ein bisschen vereinsamt fühle ich mich, weil es unter den Intellektuellen nicht viele gibt, die von jedem verstanden werden möchten. Ich habe jedenfalls den Anspruch, sowohl auf einem Kantkongress als auch vor Betriebsräten verständlich zu reden.

Wo fühlen Sie sich denn wohler?
Bei den Betriebsräten. Bei den Philosophen ist das Austauschen der konkurrierenden Fachkompetenz irritierend.

Trotzdem noch mal zu Kant: Den Gedanken der Autonomie und Würde des Einzelnen hat der noch mit der Idee einer richtigen Allgemeinheit verknüpft.
Aber es ist doch auch heute klar, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist. Wenn man von dieser Tatsache ausgeht, lassen sich Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung von der sozialen Dimension gar nicht trennen. Man könnte auch von der „Gemeinwesenanwesenheit“ im Menschen sprechen, die darauf verweist, dass zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft eine Beziehung besteht. Ich sehe keine Ego-Wirklichkeit.

Dann ist der „politische Mensch“ für Sie keine Utopie, sondern eine anthropologische Bestimmung?
Ich verstehe die Anthropologie nicht als Lehre, die uns festlegt. Der Mensch ist bestimmbar als offen Handelnder! In diesem Sinn ist der politische Mensch einer, dessen gesellschaftliche Energien nur befreit werden müssen – die sind da! Selbst dieses alberne Public Viewing ist ein Zeichen dafür, dass die Leute ihre Privatheit fliehen und eine Art körperliches Bedürfnis nach Gemeinsamkeit haben.

Das Gespräch führte Angelika Brauer.

Angelika Brauer

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