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© Berlinale

Interview: "Sogar in der Katastrophe geht es um Profit"

Raoul Peck, Regisseur aus Haiti, über seine Heimat, das Erdbeben und seinen politischen Film „Moloch Tropical“.

Monsieur Peck, Ihr Film „Moloch Tropical“ spielt in einer mächtigen Burgfestung im Gebirge. Ist sie nach dem Erdbeben ebenfalls eingestürzt?



Keineswegs. Sie liegt im äußersten Norden des Landes, der nicht betroffen war.

In der Burg regiert ein autokratischer Präsident, fernab vom Volk. Ist die einschüchternde Architektur des Gebäudes ein Symbol für die Macht der Kolonisatoren?

Im Gegenteil, die Haitianer verbinden die Zitadelle mit der Überwindung der Sklaverei – so wie die Insel Gorée im Senegal, von der aus die Schwarzen nach Amerika verschleppt wurden, ein Symbol für die Versklavung ist. Die Zitadelle wurde unter König Henry-Christophe gebaut, als Zeichen der Wehrhaftigkeit gegen die französischen Kolonialisten.

In ihrer Irrealität erinnert sie an Hitlers Obersalzberg, wie ihn Alexander Sokurow in „Moloch“ gezeichnet hat.

„Moloch“ ist ein Meisterwerk. Ebenso hat mich „The President’s Last Bang“ des Koreaners Im Sang-soo dazu inspiriert, das Shakespeare’sche Drama mit der beißenden Komödie zu verbinden. Seit Jahren wollte ich die haitianische Zeitgeschichte zum Gegenstand eines Films machen: diese ewige Bewegung zwischen Staatsstreichen, Revolutionen und Wahlen. Gleichzeitig wollte ich einen Blick auf die moderne Welt werfen – und auf das, was aus Macht geworden ist.

Welcher haitianische Diktator könnte sich in der Hauptfigur von „Moloch Tropical“ am meisten wiedererkennen?

Wieso Diktator? Ich erzähle von einem gewählten Präsidenten, der seine Macht willkürlich und missbräuchlich ausübt. Leider gibt es diese Tendenz überall seit 30, 40 Jahren – bei Richard Nixon und Bill Clinton genauso wie bei Berlusconi und Sarkozy. Und dabei spreche ich noch nicht einmal von Jelzin oder Putin. Oft gibt es starke Institutionen, die ein demokratisches Gegengewicht bilden. Aber der Machtmissbrauch findet trotzdem statt.

Man könnte auch an George W. Bush und Guantanamo denken.

Absolut! Nie hätte man gedacht, dass eine Demokratie wie die USA im 21. Jahrhundert Folter zulässt. Im Film ging es mir auch darum, diese Allmacht, diesen Unfehlbarkeitsanspruch zu demystifizieren. Man wagt es immer weniger zu sagen: Der König ist nackt. Sogar die Medien debattieren plötzlich darüber, wann Folter gerechtfertigt ist und wann nicht. Erstaunlich ist, überhaupt über Folter zu diskutieren.

Seit dem Erdbeben strömen viele Hilfsorganisationen, auch viel amerikanisches Geld nach Haiti. Wie verändert sich die Beziehung Haitis zum großen Nachbarn?

Haiti hat viele Interventionen erlebt, viele Versuche, die Souveränität des Landes zu beschneiden – nicht nur von amerikanischer Seite. Da sind die Haitianer heute achtsam genug. Was mich beunruhigt, ist eher, wie viel Energie in nutzlosen Debatten und wie viel Geld jetzt verschwendet wird. Und die Korruption. Große Unternehmen tauchen in Katastrophengebieten auf und haben nichts Besseres zu tun, als sofort ihren politischen Einfluss daheim zu mobilisieren und lukrative Verträge zu ergattern – während man noch Menschen aus den zertrümmerten Häusern holt. Es ist falsch, Tonnen von Hilfsgütern ins Land zu schütten. Viel besser wäre es, die lokalen Produkte aufzukaufen, um sie der Bevölkerung zu geben und die heimische Wirtschaft zu stärken.

Sie leben in Paris. Waren Sie nach dem Erdbeben schon in Haiti?

Ich lebe in Paris und in Haiti. Schon Tage danach war ich dort. Ich musste dieses Trauma gemeinsam mit meinem Land erleben. Sonst wäre ich in ein mentales Ungleichgewicht geraten, das ich wohl nie wieder hätte beseitigen können. Was die Wiederaufbaupläne betrifft, bin ich sehr skeptisch. Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre sind nicht sehr überzeugend, selbst nach dem letzten Tsunami wurde viel Kritik laut.

Haiti war schon vor dem Beben ein schwer beschädigter Staat.

Die Probleme des Landes sind struktureller, historischer und politischer Natur. Haitis gesamte Geschichte, auch nach dem Ende der Kolonialzeit, ist von Einmischung gekennzeichnet. Nicht nur, dass man gewisse Regimes installierte; man sorgte auch dafür, dass sie möglichst lange blieben, selbst wenn das Volk sie loswerden wollte. Die internationale Gemeinschaft trägt hierfür einen Großteil der Verantwortung, insbesondere die Amerikaner.

Was halten Sie von den Versuchen, das Erdbeben religiös zu erklären? Die einen sagen, Gott hat ein Land gestraft, das seit Jahrhunderten im Chaos versinkt. Die anderen sagen, wenn es einen Gott gäbe, dann wäre nicht gerade dieses extrem arme Land getroffen worden.

Das ist Unsinn. Gott straft keine Länder. Haiti ist eine Nation, die sich nach Jahrhunderten der Sklaverei vom Monstrum des Kolonialismus befreit hat. Seitdem wurde das Land dafür bestraft: zuerst durch einen Boykott Frankreichs und europäischer Mächte, später durch die USA, die verhindern wollten, dass das Vorbild Haiti zur Befreiung ganz Lateinamerikas führt – und die das Land erst 60 Jahre später anerkannt haben. Und wer sorgte denn dafür, dass das Land verarmt? Bis zum Zweiten Weltkrieg musste Haiti enorme Summen an die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zurückzahlen. Eingetrieben wurden sie dadurch, dass die Bauern extrem hohe Steuern abführen mussten. Das ganze Land wurde ausgemolken.

Sie waren in den Neunzigern eine Zeit lang Kulturminister Haitis. Könnten Sie sich vorstellen, dort in die Politik zurückzukehren, gerade jetzt?

Ich bin in gewisser Weise immer in Haiti, das ist mit den modernen Kommunikationsmitteln kein Problem. Damals bin ich auch nicht aus persönlichem Ehrgeiz in die Politik gegangen, sondern es war eine kollektive Entscheidung. Eine Mission. Heute kann ich anders für das Land aktiv sein, freier und wirksamer als in einem Regierungsapparat.

Aber Ihr Reisepass ist heute sicher französisch.

Ich habe in vielen Ländern gelebt, in Haiti, Afrika, in Deutschland, den USA und Frankreich. Aber ich behalte meinen haitianischen Pass.

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala.

Raoul Peck, 1953 in Port-au-Prince auf Haiti geboren, beschäftigt sich filmisch mit seiner karibischen Heimat und mit Afrika. Er wuchs in Belgisch-Kongo auf, lebte in Frankreich und den USA, bevor er 1988 an der Berliner dffb ein Filmstudium abschloss. Bekannt wurde er mit dem Dokumentarfilm „Lumumba“ (1991) und dem gleichnamigen Spielfilm (2000). 2005 zeigte er auf der Berlinale Sometimes in April über den Völkermord in Ruanda. Peck war 1995 bis 1997 Kulturminister Haitis.

Moloch Tropical erzählt vom letzten Amtstag eines schillernden Potentaten in einem tropischen Land. Der Film im SPECIAL läuft heute, 21.45 Uhr (Cinema Paris) und am 17. Februar, 18 Uhr (Cubix 8).

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