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Ruhe bewahren. Eine Seite aus der Broschüre der japanischen Atom-Behörde NISA für den atomaren Notfall. Die Bevölkerung wird gebeten, sich in geschlossene Räume zu begeben, Gerüchten keinen Glauben zu schenken und sich gründlich zu waschen.

© NISA

Interview: Vom Nutzen der Katastrophe

Krisen managen: Der Soziologe Gerhard Schulze plädiert in seinem Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" für gesunde Skepsis statt Alarmismus. Ein Interview zum Krisen-Diskurs.

Herr Schulze, was verstehen Sie unter „Alarmdilemma“?

Ein Beispiel: Japan liegt in einer stark erdbebengefährdeten Zone, aber eine Katastrophe dieses Ausmaßes galt als unwahrscheinlich. Trotzdem hatten Kritiker der japanischen Atompolitik genau vor dem jetzigen Szenario gewarnt. Hinterher sind natürlich alle schlauer, aber das Alarmdilemma spielt sich vorher ab, falls man überhaupt von einem „Vorher“ sprechen kann. Es ist ungewiss, was passieren wird. Also liegt das Dilemma darin, dass man sich zwischen zwei Übeln entscheiden muss.

Inwiefern?

Lässt man den Alarm auf sich beruhen, riskiert man ein Unglück, eventuell von gewaltigen Ausmaßen. Reagiert man auf den Alarm, riskiert man die Fehlinvestition von Mühe, Geld, Zeit und schlimmstenfalls ebenfalls ein Unglück. In Japan scheint der Fall klar zu sein: Natürlich hätte man auf den Alarm reagieren müssen. Aber das ist zu einfach gedacht. Warnungen sind immer am Platz. Aber wenn wir jeder Warnung nachgeben, werden wir handlungsunfähig. Dieses Dilemma wird gegenwärtig von vielen einfach ignoriert, wenn sie so tun, als gäbe es eine risikofreie Welt, wenn man nur das Richtige tut. Diese risikofreie Welt gibt es nicht.

Sie unterscheiden drei Verhaltensmuster im Umgang mit Krisen: „Besorgte“, „Pioniere“ und „Hausmeister“. Können Sie die drei charakterisieren?

Der Hausmeister in uns ist der Verwalter des Normalen, er sieht zu, dass alles läuft und kümmert sich um Störungen. Das hört sich harmlos an, kann aber riskant sein. Es kann wichtig sein, eine gegebene Ordnung zu verlassen und eine neue zu suchen. Dafür brauchen wir den Pionier. Aber auch das ist riskant. Und deshalb haben wir eine dritte Tendenz ausgebildet, die ich mit der Figur des Besorgten markiere: Jemand, der so oder so mit dem Schlimmsten rechnet.

Erleben wir mit der Katastrophe in Japan die Bestätigung der These des Soziologen Ulrich Beck, dass die Produktion von Reichtum einhergeht mit der Produktion von Risiken?

Was geht denn nicht einher mit der Produktion von Risiken – etwa arm zu bleiben und auf technische Innovationen zu verzichten? Sollen wir nur auf den Hausmeister und den Besorgten in uns zu hören und uns im Alarmdilemma immer für die Warnung entscheiden? So sehr mich das Geschehen in Japan entsetzt hat, ich bin nach wie vor davon überzeugt, der Weg der Moderne ist richtig. Wir sollten Fehler, grobe Fahrlässigkeit, Denkfaulheit und Gier nicht mit dem Kerngedanken der Moderne verwechseln. Und der ist: Produktion von Freiheit, von Handlungsmöglichkeiten und vernünftig geführten öffentlichen Diskursen. Mit „Reichtum“ finde ich das nicht ausreichend auf den Punkt gebracht. Die Perversionen der Moderne sind nicht identisch mit ihrem ursprünglichen Anliegen. Die Krisen der Moderne sollten uns dazu bringen, uns wieder auf ihren Kern zu besinnen. Und nicht dazu, uns von ihr abzuwenden.

Ist das Bewusstsein der eigenen Gefährdungen und Selbstgefährdungen typisch für moderne Gesellschaften?

Vor Jahren rangierte die Bevölkerung von Nigeria bei einem internationalen Zufriedenheitsvergleich an der Spitze. Ein nigerianischer Journalist meinte dazu, dass er alle Nationen beneide, deren Menschen unzufriedener seien, sich mehr Sorgen machten, aber objektiv besser lebten. Auf uns Deutsche trifft dies gewiss in besonderem Maß zu. Wir sind risikosensibel wie noch nie, aber unsere Lebenserwartung steigt jährlich um etwa drei Monate. Ich bin froh, in einer postheroischen Gesellschaft zu leben, die das Besorgtsein kultiviert, statt es zu verachten. Das ist aber nur dann ein Fortschritt, wenn wir den Pionier in uns nicht einsperren.

Wo liegen die Grenzen eines vernünftigen gesellschaftlichen Risiko-Diskurses?

Irrational wird es, wenn in Vergessenheit gerät, dass nichts riskanter ist als eine illusionäre Strategie der völligen Risikovermeidung. Es ist irrational, die Bilanz einseitig aufzumachen – nur die Risiken zu sehen und nicht die Gewinne und Chancen.

Ändern Katastrophen wie die in Japan unser Weltbild, ähnlich wie das Erdbeben in Portugal 1755 den Fortschrittsoptimismus der europäischen Aufklärer irritiert hat?

Letztlich hat sich die Aufklärung trotz des Erdbebens von Lissabon durchgesetzt. Das 19. Jahrhundert wurde das des Fortschrittsoptimismus, erst im 20. Jahrhundert wich er einer pessimistischeren Haltung. Die Katastrophe von Japan wird sich wohl ähnlich tief ins kollektive Gedächtnis einprägen wie das Erdbeben von Lissabon, aber ich glaube nicht, dass sie die Menschheit vom Pfad der Moderne abbringen wird. Sie bringt den kritischen Diskurs über die Moderne voran.

Was nützt das Reden über Krisen?

Der kritische Diskurs ist ein Motor und das Produkt der Moderne. Durch ihn lernen und entwickeln sich moderne Gesellschaften. Wir werden weiter über Risiken reden, aber wir werden uns im Alarmdilemma mal so, mal so entscheiden, wenn der Diskurs nicht einseitig geführt wird. Wir brauchen alle drei: den Hausmeister, den Pionier und den Besorgten in uns. Wir werden im 21. Jahrhundert lernen, das labile Gleichgewicht zwischen diesen Haltungen zu wahren.

Sind krisenhafte Abweichungen von der scheinbar sicheren Normalität unvermeidbar? Wie „normal“ sind Krisen?

Es ist wichtig, zwischen zwei Normalitätsformen zu unterscheiden: der stationären Normalität des Aufenthalts und der mobilen Normalität der Transformation. Die Moderne hat die Normalität der Transformation kultiviert. Wie sehr sie uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, sieht man an den Erwartungen, mit der wir der nächsten Automobilmesse, der Consumenta, der Cebit oder Ökotec entgegensehen. Wir haben die Normalität der Transformation verinnerlicht, aber wir kommen immer wieder auch an und wollen uns häuslich einrichten. Dieser Wechsel gehört zur Moderne – er nervt uns, und gleichzeitig wollen wir ihn.

Die Ressource Aufmerksamkeit ist begrenzt. Das gilt auch angesichts von Krisen und Katastrophen wie jetzt in Japan. Gibt es, innerhalb der medialen Aufbereitung, eine Konkurrenz der Krisen?

Die langfristige Erfahrung mit der medialen Öffentlichkeit lehrt das Gegenteil. Es gibt ein anthropologisch universelles, nie zur Ruhe kommendes Interesse an Krisen und Konflikten. Warum steht nie in der Zeitung, dass der Verkehr in der Bundesrepublik gestern besonders störungsfrei verlief? Warum empfinden die meisten Leser einen Roman, dessen Protagonisten immer nur glücklich und zufrieden sind, als langweilig? Warum wird es kein Erlahmen der Aufmerksamkeit für globale Börsencrashs, Vulkanausbrüche, Revolutionen oder Zusammenbrüche großtechnischer Systeme geben? Weil wir von Natur aus wachsam sind. Weil wir nur so überleben konnten. Weil wir die Normalität lieben, wir sie aber schnell langweilig finden.

– Das Gespräch führte Peter Laudenbach.

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