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Kultur: Irokesenfrisur unter der Kopfhaut

Punk ist nicht tot: Wie eine Kreuzberger Plattenfirma jedes Jahr den Underground aufmöbelt

Emma ist nicht da. Das Telefon lässt sie unbeantwortet. Sie müsste längst aufgetaucht sein, sagt Steve Morell über seine Geschäftspartnerin, mit der er das Kreuzberger Label Pale Music betreibt, in einer WG zusammenlebt, Platten auflegt, eine Band namens The Scandals unterhält und nun auch gemeinsam zum Interview erscheinen will. „Sie ist eigentlich die Zuverlässige von uns beiden“, sagt Morell und drückt auf die Wahlwiederholungstaste.

Es passiert häufiger mal, dass Steve Morell etwas, das er sehr gerne hat, abhanden kommt. Erst neulich suchte der DJ einen ganzen Abend lang eine seiner Lieblingsplatten. Er wusste, dass er sie in den LP-Koffer gesteckt hatte, denn die Hülle von Patti Smiths „Waves“ hielt er ja in der Hand. Nur die Scheibe selbst fehlte. Schließlich fand er sie auf dem Fußboden. „Ich stand drauf“, sagt er kichernd. Seine Absätze tanzten schon eine ganze Weile auf dem Vinyl herum. Eine CD wäre jetzt „im Arsch“ gewesen, faucht Morell. Er mag keinen Glitzerkram. Aber die Platte wischte er nur eben kurz an seiner engen schwarzen Nadelstreifenhose ab, um sie endlich auf den Plattenteller zu legen.

Im Gegensatz zu Patti Smith klingt Emma überhaupt nicht zerkratzt, als sie auftaucht. In ihrer silberfarbenen Jacke und mit den weißblonden Haaren ist Emma Eclectic das genaue Gegenteil zu Morells nachtschwarzem hohlwangigem Auftreten. Er redet schnell und viel. Zuletzt prangte der hagere Schlangenkopf sogar auf dem Titelbild eines Stadtmagazins. In ihm verkörpert sich die Sehnsucht Berlins, zu den Punk-Wurzeln zurückzukehren. Je mehr ökonomische Düsternis sich über das Land und seine Hauptstadt legt, desto stärker das Bedürfnis nach kulturellen Gegenkräften.

„Popmusik macht wieder Spaß“, sagt Morell und steigt in seinem Kreuzberger Büro über ein paar Aktenordner. Was genau er unter Spaß versteht, ist schwer zu ermitteln. Mit der viel beschworenen Spaßgesellschaft hat es wenig zu tun. Vielmehr mit einer gewissen Unaufgeräumtheit der Zustände, wie sie das kleine Labelbüro erfasst hat. Normalerweise werden hier Platten vermarktet. Nun aber stecken die Getreuen, die Morell zu schlecht bezahlt, um sie Mitarbeiter zu nennen, in den letzten Vorbereitungen für ein Kulturfestival. „Berlin Insane“ heißt es, nach einer Compilation-Reihe, die demnächst zum vierten Mal von Pale Music herausgebracht wird und das Schrägste an musikalischen Grenzgängen versammelt, das diese Stadt hervorbringt. Neben Neubauten-Urgestein N. U. Unruh („Gott sei’s getrommelt“) werden Elektro-Stars wie Mark Moore, Eric D. Clark und T. Raumschmiere sowie Punkpopperin Peaches („Redneck Sex“) und zahlreiche Newcomer zu hören sein. Es ist eine wilde Mischung, bei der ganz neue Stile kreiert werden. Songs, die klingen, als seien sie am Computer entstanden, werden von Gitarrenbands gespielt – und Rocksongs am Computer entworfen. Diese Musik hält sich an keine Regeln und sie macht Spaß, sagt Emma, weil sie einer Lebenshaltung entspricht. „Es macht finanziell keinen Sinn, einen Job zu haben“, fasst sie die Stimmung des Underground zusammen. „Man kann so viel studieren, wie man will und wird doch nie Karriere machen. Darum besinnen sich die Leute auf das, was sie schon haben, weil es in ihnen steckt.“

Steve Morell nickt. Er hat mal einen Song von Johnny Thunders sehr geliebt: „Born To Lose“. Es verging keine Party, ohne dass er den Titel aufgelegt hätte. Heute sieht er die Sache nüchterner. Thunders ist tot und er selbst Karrierenmacher. Für einen „Berlin Insane“-Sampler von ihm ausgewählt zu werden, gilt als Gütesiegel. Von 560 Bewerbern haben es diesmal 36 geschafft – Eclectic und Morell alias The Scandals sind auch darunter mit einer Hymne auf die Subkultur. „Sexy dirty faces, they’re freakin’ all around“, sprechsingt Morell über einen holpernden Synthi-Beat. In dem Kreuzberger Café, das der Firma gegenüberliegt, wird er nicht müde zu beteuern, dass Berlin musikalisch wieder ganz vorne mitmische. In London und New York sei der Elektroclash-Trend verschlafen worden. Das berühmte CBGB’s, in dem Blondie und Patti Smith spielten, hat dicht gemacht.

Der 39-Jährige kam 1984 nach Berlin und legte im Trash die übliche depressiv-düstere Untergangsmusik der Ära auf. Das färbte ab, er wurde zum Junkie. „Heroin war billig. Kokain war billig. Und beides zusammen war prima“, sagt er. Dann, 1994, „ging gar nichts mehr“. Punkmusik war abgemeldet, Techno boomte. Morell begab sich in Therapie und entdeckte den Buddhismus, während um ihn herum Ecstasy zur neuen Modedroge aufstieg. Die Pillen stellten mit den Leuten dasselbe an wie die Musik: „wegbomben“. Morell sagt es voller Verachtung. Darin ist er Purist. Wenn schon Stress, dann sollte er einem wenigstens Kreativität schenken.

Nach einem Intermezzo als Roadie bei den Sisters of Mercy und längeren Aufenthalten in London kehrte er 1999 nach Berlin zurück und gründete sein Label, das mit den alten Genregrenzen aufräumte. In den Clubs mischte sich das Publikum ja auch längst. So hat Pale Music es geschafft, dass Marc Almond (ehemals Soft Cell) ihnen Material überließ, obwohl er vertraglich ganz anders gebunden war. Sogar Boy George findet sich auf ihrem Label. Und als Morell auf der Popkomm mit seinen CDs zwischen all den Anzug- und Turnschuh-Typen stand, glaubte er es nicht. Sie wollten alle eine haben. Er weiß: Für die ist Musik „Business, aber kein Begeisterungsmodell“. Deshalb hält er sich an eine Songzeile des Künstlerfreunds Jim Avignon, der sang: „And if everybody goes commercial, why should not we?“

Für Punker ist Kommerzialisierung ein Schimpfwort. Doch für Morell und seinesgleichen hat es seinen Zankwert verloren. Kommerz bedeutet in seinen Augen, Leute, die er nicht mag (und die ihn vermutlich ebenfalls nicht mögen), bezahlen zu lassen. Wie er ihnen das erklärt? Etwa so: „Hey, für euch machen wir’s nicht billig. Leck mich am Arsch.“ Er hat nie das Gefühl gehabt, dass er seine Ausdrucksweise ändern sollte. Wie man spreche, sagt Morell, so fühle man sich auch. Und letztlich könne er seine Miete immer noch kaum aufbringen.

Pale Music hat einen Schutzengel. Sie ist weit über siebzig, beinahe blind und etwas wackelig auf den Beinen. Aber wenn die HipHop-Burschen aus der benachbarten Schule mal wieder im Hauseingang herumlungern, keift sie von oben: „Lasst mir die Punker in Ruhe!“ „Ich mag die Alte“, sagt Morell. Dann zieht er sich am Fenstersims seiner Ladenwohnung hoch und schwingt seine Beine gekonnt ins Innere. Das ist die Art, wie Punker ins Büro gehen.

Berlin Insane IV, das Festival: Volksbühne, 21. Oktober, ab 20 Uhr 15, die CD erscheint Ende November bei Pale Music.

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