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Israel-Attacke: Was spricht in Günter Grass?

Günter Grass' Gedicht ist ein moralischer und politischer Skandal, ein grenzwertiger, belangloser Aufschrei, meint "Cicero"-Chefredakteur Michael Naumann. Dabei hätte Grass es besser wissen müssen.

Dies vorweg: Günter Grass ist nicht nur ein bewundernswerter Schriftsteller, sondern ein politisch denkender, bisweilen leicht erregbarer Bürger, dessen moralische Interventionen kraft seiner Sprachgewalt, seines literarischen Ruhms in aller Welt eine Aufmerksamkeit generierten, die bisweilen im umgekehrten Verhältnis zum Gegenstand seiner Empörungen stand. Diesmal ist es anders: Sein "Gedicht" ist ein moralischer und politischer Skandal.

Die politische, ja, staatsanwaltliche Rezeption seiner "Blechtrommel" hatte vor einem halben Jahrhundert den tiefen Riss zwischen der Kriegsgeneration und den glücklich Davongekommenen und Nachgeborenen offenbart. Die Älteren fühlten sich sittlich missverstanden und sprachen von politischer Pornografie, die Jüngeren erkannten den moralischen Impetus des Autors und folgten ihm in seinen Kampagnen gegen die NPD, die in den sechziger Jahren noch einmal die ergrauten Nazis mobilisierte. Seine Wählerinitiative unter dem Titel "Dich singe ich SPD" galt in einer Republik, die derlei in ihrer jungen demokratischen Tradition noch nicht erlebt hatte, als unzulässig: Dichter sollten dichten, mehr nicht. Auch die SPD war beunruhigt – der Mann war kein Parteimitglied.

Das wahrlich verspätete Bekenntnis des Dichters, als 17-Jähriger einige Wochen in der Waffen-SS gedient zu haben, führte zu einem kostenlosen moralischen Rausch derjenigen, die des bisweilen pastoralen Tons von Günter Grass überdrüssig geworden waren. Als wären seine vergangenen politischen Einlassungen damit moralisch entwertet worden, als hätte das Kind Grass – und das war er – mit seiner unvermeidbaren Einberufung in den letzten Kriegsmonaten alle nachfolgenden politischen und womöglich auch literarischen Äußerungen diskreditiert.

Völlig daneben war sein Einwand gegen die Wiedervereinigung. Wer mit dem Urverbrechen des Holocaust belastet sei, so wollte er wohl sagen, habe das Recht verloren, mit neuer territorialer und ökonomischer Größe in die Weltgemeinschaft zurückzukehren. Hier offenbarte sich der ethische Plausibilitätspunkt seines politischen Denkens. Hinter dem Symbol "Auschwitz" verbarg sich die Unfassbarkeit, ja, das Böse schlechthin. Die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden – und die stets mitzudenkenden genozidalen Vernichtungsaktionen der Deutschen gegen die Slawen.

Damit befand sich Grass in moralischer Übereinstimmung mit der offiziellen Haltung der meisten deutschen Politiker. Dass Israels Sicherheit – als Zufluchtsstaat der Davongekommenen – zur Staatsraison der Bundesrepublik gehöre, haben Joschka Fischer und kürzlich auch Angela Merkel deutlich gemacht, wenngleich die deutsche Exportpolitik, Waffenhandel inklusive, ahnen ließ, dass die Abhängigkeit des Landes vom Ölimport aus dem Nahen Osten zu allerlei realpolitischen Widersprüchen führte.

Diese Widersprüche, genauer, der Export von deutschen U-Booten an Israel, bilden den Hintergrund von Grass' politisch grenzwertigem, literarisch belanglosen Aufschrei unter dem verräterischen Titel "Was gesagt werden muss". Er spiegelt das Möllemann-Syndrom wider: "Man wird doch einmal sagen dürfen…". Die Floskel gehört zu den klassischen Ouvertüren aller antizionistischen und antisemitischen Bemerkungen (der semantische Unterschied ist minimal), die nahtlos anknüpfen an Martin Walsers Rede über die sogenannte "Auschwitz-Keule". Die intellektuell anerkannte, moralische Verantwortung für den Völkermord wird den Hochempfindsamen langsam zur Last.

Hitler war nicht der einzige verrückte Politiker der Geschichte

Mit dem Diplom des gelebten Antifaschismus in der Tasche und der festen Überzeugung, dass die Lehre, die Deutschland aus seiner mörderischen Geschichte gezogen hat, auf einer universalen Moral basiert – nämlich dem Recht auf Leben in Würde und Freiheit – öffnet sich die heimliche Tapetentür zur Kritik an Israel. Es ist ein seltsames Bedürfnis, das sich hier Luft schafft: Endlich einmal "den anderen" zuzurufen, dass wir nicht nur ein "Volk der Täter" seien, sondern dass die Opfer, genauer, ihre Nachfahren, ja auch nicht fehlerlos seien. Im Gegenteil: Die Israelis gefährdeten mit ihrem "behaupteten Recht auf den Erstschlag" unser aller Überleben. Es ist aber der schiere Unsinn.

Der Begriff "Erstschlag" entstammt der nuklearen Abschreckungsstrategie. Noch nie hat ein israelischer Politiker den Nachbarstaaten, Iran inklusive, mit einem Atomkrieg, also einem "Erstschlag" gedroht. Im Gegenteil, Israel zu vernichten, "auszuradieren", auszulöschen, die Israelis ins Mittelmeer zu treiben usw. – die seit der Existenz des kleinen Landes nie endenden Androhungen aus dem arabischen und neuerdings iranischen Raum sind so bekannt wie die Herkunft des militanten Terrorismus, der Selbstmordattentäter, der kontinuierlichen Anti-Israel-Propaganda und der jahrelangen Raketenangriffe aus dem Libanon und dem Gazastreifen. Einzig die atomaren Abschreckungswaffen Israels haben dem Land eine prekäre Sicherheit gewährt – es ist die gleiche Sicherheit, die Deutschland unter dem amerikanischen Schutzschirm davor bewahrte, zum designierten Schlachtfeld des Kalten Krieges zu werden.

Und war es nicht die Absicht des damaligen Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß, die Bundeswehr atomar zu bewaffnen, die Günter Grass zum erbitterten Gegner des CSU-Politikers machte – weil er ihm und seinesgleichen das Ärgste zutraute? Aber Ahmadinedschad und den Mullahs will er vertrauen?

Als Nuklearstratege ist Günter Grass bisher nicht in Erscheinung getreten. Wie also kommt er auf die bizarre Behauptung "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden"? Welcher Wahn "okkupiert die Region" – wenn nicht derjenige eines Mullah-Regimes im Iran, dessen Führung unverblümt von der Zerschlagung der einzigen nicht-muslimischen Demokratie im Nahen Osten schwadroniert? Eines Regimes, das mit längst durchschauten Täuschungsmanövern unter Bruch eines völkerrechtlich verbindlichen Vertrags den Bau von Atombomben und dazugehörigen Trägerraketen forciert?

Jene anti-israelische Propaganda Teherans, so mag Grass denken, sei nur nationalistisches Getöse. Aber er, der sich in deutscher Schuldgeschichte auskennt, sollte doch zumindest bedenken, dass ein "geistliches" Regime, das sich mit Mord und Totschlag seit Jahrzehnten an der Macht hält, zu Irrationalitäten der schlimmsten Sorte fähig ist. Adolf Hitler war nicht der einzige pathologische, verrückte Politiker der Geschichte. Hat Grass die zehntausende Kinder vergessen, die einst von den Mullahs in die irakischen Minenfelder getrieben wurden? Hält er die hochbewaffneten Hisbollahkrieger im Libanon für iranische Friedensbotschafter?

Was also treibt den Dichter an? Angesichts der haltlosen Behauptungen seiner lyrischen Prosa scheint die Vermutung nicht abwegig, dass ein faktenfeindlicher Blick vom Moralgipfel auf die Nahost-Region doch einem ganz anderen Impuls folgt: einmal, ein einziges Mal Urlaub zu nehmen von der deutschen Verantwortungsgeschichte, einmal, ein einziges Mal den Juden zuzurufen, dass sie ja auch Täter sein könnten, einmal, ein einziges Mal es Martin Walser gleich zu tun, der es nicht mehr ertrug, die Bilder anzuschauen, die uns aus den Konzentrationslagern überliefert wurden – also auszutreten aus der Erinnerung, die auf dem hochempfindlichen Gemüt eines Dichters wie ein Albtraum gelastet hat und mit "letzter Tinte" den Juden zuzurufen, dass sie "den Weltfrieden gefährden".

Aber genau das hatten wir schon einmal gehört. Was, um Himmels Willen, spricht da in Günter Grass?

Michael Naumann ist Chefredakteur des Magazins "Cicero". Er war Kulturstaatsminister unter Kanzler Schröder.

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