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Kultur: Ist doch kein Leben, das Leben, das wir lesen

Wer von den Schlägen des Schicksals so fasziniert ist, dass er ihnen bisher 14 biographische Bücher abgewonnen hat, der kann auf Dauer nicht von Härten verschont bleiben. "Ich habe extra einen Raum aufgeräumt, und nun sieht sich der Besuch alle anderen an", ruft Manfred Flügge mit komischer Emphase, während er durch seine Wohnung eilt und die Fotografin Zimmertüren öffnet.

Wer von den Schlägen des Schicksals so fasziniert ist, dass er ihnen bisher 14 biographische Bücher abgewonnen hat, der kann auf Dauer nicht von Härten verschont bleiben. "Ich habe extra einen Raum aufgeräumt, und nun sieht sich der Besuch alle anderen an", ruft Manfred Flügge mit komischer Emphase, während er durch seine Wohnung eilt und die Fotografin Zimmertüren öffnet. In jedem Raum geht sie zum Fenster und prüft das Tageslicht. Richtig hell ist es nirgends. Der Schriftsteller wohnt im ersten Stock, Gartenhaus. Das Licht ist trübe, trotzdem stellt sich Flügge sorglos der Kamera: "Ich muss nur reden, schon sehe ich auf dem Foto einigermaßen aus." Dass er sich sprechend wiedererkennt, verwundert nicht. Versteht er doch das Schreiben als "möglichst intelligente Unterhaltung mit dem Leser".

Gut gefüllte Bücherregale recken sich in allen Räumen zu den Altbaudecken, und in den letzten zwölf Jahren hat Flügge ihnen mehr als ein Dutzend Unterhaltungen zwischen Buchdeckeln hinzugefügt: 1993 erzählt er die "wahre Geschichte" von Truffauts "Jules und Jim" und der unvergesslichen Catherine, nämlich jene von dem Berliner Flaneur Franz Hessel, seiner Ehefrau Helen Grund und dem gemeinsamen Freund Henri-Pierre Roché ("Gesprungene Liebe"). Er sieht sich 1996 in Sanary sur Mer um, wo Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und andere im Exil lebten ("Wider Willen im Paradies"), und folgt zwei Jahre später Cato Bontjes van Beek, dem 22-jährigen Mitglied der Roten Kapelle, bis in die Todeszelle ("Meine Sehnsucht ist das Leben").

In diesem Jahr bringt es Manfred Flügge auf gleich drei Konversationen mit dem Leser: Er schildert das aufregende Leben des ungebärdigen Adligen Beaumarchais, dem Verfasser von "Figaros Hochzeit" ("Figaros Schicksal"), verfasst in nur zwei Monaten den Monolog "Die Unberührbare", eine Replik auf Oskar Roehlers gleichnamigen Film, und er folgt den Lebensspuren, mit denen sich Heinrich Schliemann zum Entdecker von Troja stilisierte. Drei Schicksale, drei Jahrhunderte - und eine Tretmühle namens Schreibtisch. Man kann sein Brot zweifellos einfacher verdienen. Als Romanistik-Dozent an der Freien Universität zum Beispiel. Dort unterrichtet der 1946 im dänischen Kolding geborene Flügge von 1976 bis 1988. Seine Seminare genießen den besten Ruf. Flügge wirkt nämlich, wenn er nicht gerade einen schwarzen Tag hat, ganz unakademisch inspiriert: Eloquent spricht er von den Büchern, innig vertraut über lebende wie tote Autoren. Nur wohl fühlt sich der Dozent nicht an der Universität, und zu schreiben vermag er auch kaum. Der Knoten platzt erst, nachdem er sich für die freie, die "Seiltänzerexistenz" entschieden hat.

Flügge ist ungemein produktiv - aber Anerkennung findet er kaum. "In Deutschland darf man Biographien einfach nicht mit literarischen Mitteln verfassen", klagt er. "Bei jedem Werk von Stefan Zweig, den ich sehr schätze, vermerkte Thomas Mann im Tagebuch: Schon wieder so ein subalternes Buch." Das Geheimnis seiner Produktivität? "Morgens anfangen und abends aufhören." Das Geheimnis ist, sich wie ein Angestellter seiner selbst zu verhalten? "Ich bin ein freier Autor und muss schnell arbeiten." Natürlich. Was bliebe auch von dem Geheimnis, würde er es einfach verraten. Was bliebe einem selbst, wüsste man alles über sich. Und was bliebe dann von dem Gespräch mit dem Leser? Nichts, nichts und wieder nichts. Also weiter in der Unterhaltung, zurück zu Schliemann, während die Dämmerung durch die Fenster kriecht.

Schliemann erstens, zweitens, drittens. Das Buch ist erschienen ("Heinrich Schliemanns Weg nach Troia", dtv, 299 Seiten, 29 Mark), aber Flügge ist mit dessen Hauptperson noch lange nicht fertig. Wie erfinderisch der Mann war! "Schliemann ist ein Mythomane", und Flügge ist schon in einem Stegreifessay: "Er erfindet sein Leben und zeigt dabei eine unglaubliche Begabung als Anekdotenerfinder, Schwadroneur, Flunkerer, Schwindler. Als er Troja zu finden meint, gibt der Archäologe seinen Fund der Welt bekannt und veröffentlicht zugleich seine Lebensgeschichte. Troja wird historisch und Schliemann eine Legende - im selben Augenblick!"

Das Modell für diesen imponierenden Windbeutel, mutmaßt Flügge, könnte Peer Gynt gewesen sein. Ibsens Stück über den Geschäftsmann, Abenteurer, Aufschneider, der auch Archäologie treibt, erscheint ein Jahr vor Schliemanns Lebenswende. "Von Peer Gynt leiht sich Schliemann das Motiv der Jugendliebe: Seine Solveig heißt Minna." Das Fantastische, das Imaginäre steigert Flügge noch, ehrt in Schliemann einen Meister, der in der Wirklichkeit erreicht, was Schriftsteller lediglich erfinden - von einem Schicksal zu erzählen. "Die Kategorie des Schicksals ist außer Mode, weil es an Extremsituationen gebunden ist, die man niemandem wünscht. Aber seit dem Krieg in Jugoslawien steht das Schicksal wieder auf der Tagesordnung." Flügge hat sich ihm schon vorher verschrieben. Alle seine Bücher, auch der Roman "Zu spät für Amerika" (1998), handeln von Schicksalsschlägen, die zum "Leben im Anderswo" zwingen - im Exil, im Mythos, in der Selbsterfindung. Flügge ist aus Sehnsucht nach dem Jenseits des wohlfahrtsstaatlichen Eingehegtseins zum Biographen des Fatums geworden.

Diese Sehnsucht lässt Respekt walten. "Ich glaube, dass meine Helden über sich Bescheid wissen." Hermeneutik also statt Psychoanalyse. Flügge ist ein bewundernder Biograph, ja: ein Hagiograph der Subjektivität, der die Souveränität auch dort schätzt, wo sie dem Selbstbetrug dient. "Was können wir überhaupt glauben von Schliemanns Berichten?" fragt er. Und dann erklärt er nicht, sondern erzählt. Flügge ist ein Mythomane zweiter Ordnung. Einer, der den Schicksalen verfallen ist, nicht dem einen Schicksal. Das ist eine sehr moderne Lösung, eine, die der Existenz im Wohlfahrtsstaat angemessen ist. Auch hinter dem Gartenhaus, wo die Dunkelheit inzwischen den Hof ausfüllt. Sie schwärzt die Fenster zwischen den Bücherregalen und lässt sie zu Spiegeln werden.

Jörg Plath

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