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Istanbul: Heiße Nächte in Kumkapi

Tanzen, feiern, musizieren – die Altstadt von Istanbul gilt als einzigartig. Ein Sanierungsprojekt könnte das Viertel aber total verändern.

Die Uhrzeiger rücken auf Mitternacht vor, vom Meer her kommt eine frische Brise auf. Doch in Kumkapi wird die Nacht erst richtig heiß um diese Zeit. Die Gassen des Vergnügungsviertels auf der Istanbuler Altstadthalbinsel sind hell erleuchtet von Lichterketten, an Hunderten weiß gedeckten Tischen tafeln Türken und Touristen unter freiem Himmel frischen Fisch. Die Luft ist erfüllt vom Klang der Trommeln, Fiedeln und Klarinetten rivalisierender Musikertrupps, die zwischen den Tischen durchwandern und dort verweilen, wo es Trinkgeld gibt. Der Raki fließt in Strömen, und bald hält es die ersten Gäste nicht mehr auf den Stühlen. Hier springen ein paar Frauen von einer Familienfeier auf, um zwischen den Tischen die Hüften zu schwingen; dort stampfen griechische Touristen im Volkstanz zu den Rhythmen der Roma-Musiker; ein paar Tische weiter schunkelt ein Betriebsausflug; und bald ist es so weit: Zum rhythmischen Klatschen eines ganzen Straßenzuges steigt eine Frau auf ihren Tisch und legt zwischen Tellern und Gläsern einen Bauchtanz hin.

Weithin berühmt für solche Nächte ist Kumkapi. Doch erst bei Tageslicht wird hinter der Karnevalsmaske das wahre Antlitz dieses historischen Stadtviertels sichtbar. Verlebt und erschöpft ist dieses Gesicht, gezeichnet von Tragik, Leiden und Verzweiflung, aber auch milde und gütig. Nun soll Kumkapi ein Facelifting bekommen, beim Stadterneuerungsprojekt von Istanbul. Die Frage ist, wie das dem byzantinischen Viertel stehen wird – und ob es die Operation überlebt.

Der Tag beginnt in Kumkapi lange vor Morgengrauen. Kreischend umkreisen die Möwen in dem kleinen Hafen am Marmara-Meer die Fischerboote, von denen bärtige Männer ihren Fang abladen. Auf Handkarren zerren die Fischer ihre silbrige Ladung zu den nahen Hallen des Fischgroßmarktes von Istanbul, wo Händler schon aus Leibeskräften brüllend ihre Brassen anpreisen. Eine mehr als eineinhalbtausendjährige Tradition hat dieser Hafen, nach dem das Stadtviertel seit byzantinischer Zeit als „Kontoskali“ bekannt war – griechisch für „kleiner Hafen“. Der türkische Name Kumkapi, der „Sandtor“ bedeutet, hat sich erst in den vergangenen Jahren durchgesetzt – seit die letzten Griechen fort sind aus dem Stadtviertel unter der bröckelnden byzantinischen Mauer.

Zu den allerletzten von ihnen zählte Meletios Sakkoulidis, ein gebeugter Mittachtziger mit langem weißen Bart und einem ausgeprägten Sammeltrieb. In der Sankt- Kyriakis-Kirche in Kumkapi dokumentierte der orthodoxe Priester über Jahrzehnte die Vertreibung seiner Schäfchen und den Verfall seiner Gemeinde: Von jedem griechischen Haus, das in der anti- griechischen Pogromnacht vom September 1955 angegriffen und geplündert wurde, holte sich Sakkoulidis einen Backstein; von jeder griechischen Familie, die im Zypernstreit 1964 ausgewiesen wurde, erbat er sich ein Foto. Als der Priester vor drei Jahren starb, gab es keine Griechen mehr in Kumkapi – doch seine Sammlung legte Zeugnis ab von ihrem Schicksal.

Auch den Armeniern von Kumkapi ist die Pogromnacht von 1955 tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. „Da wurde zerschlagen, zertrümmert und geplündert bis ein Uhr morgens“, erinnert sich ein über 90-jähriger Armenier in seinem winzigen und windschiefen Häuschen in Kumkapi. „Alles haben die Plünderer weggeschleppt, bis hin zu den Teppichen.“ Damals war noch seine ganze Straße von Christen bewohnt, erzählt er. „Heute sind höchstens noch zwei oder drei da, alle anderen sind gegangen. Jetzt leben hier vor allem Kurden, die aus Südostanatolien in die Stadt gekommen sind.“ Die ganze Nacht werde draußen vor seinem Fenster geschossen und randaliert, klagt der alte Mann. „Solch ein Ort ist das geworden. Aber die Miete ist billig, und so bleibe ich hier wohnen.“

Wer es sich leisten kann, der ist aus Kumkapi fortgezogen – das gilt auch für die alteingesessenen Armenier, die einst von den Osmanen hier angesiedelt wurden. Sultan Mehmet der Eroberer holte sie nach der Einnahme von Konstantinopel im 15. Jahrhundert herein – wohl um ein Gegengewicht zu den Griechen zu schaffen, vermutet die armenische Schriftstellerin Jaklin Celik, die ihre Kurzgeschichten in der Atmosphäre von Kumkapi ansiedelt. Geblieben ist bis heute das armenische Patriarchat der Türkei, das seit osmanischen Zeiten in Kumkapi angesiedelt ist und erst kürzlich prächtig renoviert wurde. Die Gasse, in der es liegt, wurde auf Bitten des Patriarchen vom Stadtrat vor einigen Jahren umbenannt: Statt an der „Straße der Granatsplitter“ liegt die Patriarchatskirche nun an der „Straße der Zuneigung“.

Doch die Zeichen der Versöhnung kommen zu spät, um den Stadtteil zu retten. Die einst so eleganten Bürgerhäuser der Armenier und Griechen sind heute so verfallen, dass die kunstvoll verzierten Erker auf die Gassen zu stürzen drohen. In jedem zugigen Zimmer der verwahrlosten Häuser wohnen bis zu zehn Zuwanderer aus aller Welt: kurdische Kriegsflüchtlinge; Arbeitsmigranten aus Armenien, die mit den türkischen Armeniern nichts zu tun haben; Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran und Irak, aus Sudan, Somalia und Kongo; Arbeitssuchende aus Senegal und aus Tadschikistan und viele andere Menschen, die von der Verzweiflung hier in Kumkapi angespült worden sind.

Zwei von ihnen sind Moussa und Diaby, die schon seit den Morgenstunden wieder ziellos durch die Gassen von Kumkapi laufen. Hunger haben die beiden jungen Männer, aber ihren Stolz haben sie auch. „Wir können doch nicht fremde Menschen ansprechen und um Hilfe bitten“, sagt Moussa, der zu Hause an der Elfenbeinküste als Automechaniker gearbeitet hat. Vor dem jüngsten Ausbruch der politischen Unruhen in ihrem Land sind die beiden Männer quer durch Afrika und den Nahen Osten geflohen, doch wie es nun weitergehen soll, wissen sie nicht. „Wir kennen hier niemanden, und wir können die Sprache nicht“, sagt Moussa. Seit einem Monat sind sie in Kumkapi, schlafen nachts auf einem Kellerboden mit zehn anderen Flüchtlingen und laufen tagsüber auf Arbeitssuche durch die Gassen. Kein Mensch dreht sich nach den beiden verlorenen Afrikanern um in Kumkapi, wo Reklameschilder in kyrillischer und armenischer Schrift gedruckt sind und Telefongeschäfte billige Gespräche mit den entferntesten Ecken der Welt anpreisen. Nicht elend und resigniert, sondern geschäftig und umtriebig gibt sich Kumkapi. „Divine Logistics“ – göttliche Logistik – nennt sich eine Firma, die in einem Kellerlokal residiert und vom Textilienhandel mit Nigeria lebt. „Gott ist gut“ hat Onyeka, der nigerianische Inhaber, in das Logo seiner kleinen Firma gedruckt. Seine Geschäfte sind es auch, sagt er.

Nicht alle in Kumkapi sind so zufrieden mit ihrem Los. In Kellern, Hinterhöfen und Etagenwohnungen verbergen sich die Betriebe, in denen viele Migranten arbeiten. Winzige Textil- und Lederwerkstätten sind es, wo Gelegenheitsarbeiter in kahlen Betonräumen bei Neonlicht billige Schuhe zusammenkleben oder Kleidungsstücke nähen. Bezahlt wird in der Regel pro Stück, beschäftigt nur nach Auftragslage – die türkischen Inhaber leben selbst am Abgrund der Armut.

Feuer, Erdbeben und Seuchengefahr: So könne es nicht weitergehen, argumentiert die Stadtverwaltung von Istanbul, die beim Stadterneuerungsprojekt auch Kumkapi sanieren will. Die Leder- und Textilbetriebe sollen umgesiedelt werden in ein neu errichtetes Industriegebiet weit außerhalb der alten Stadtmauern, der Fischgroßmarkt am „kleinen Hafen“ soll auch umziehen auf ein größeres Gelände am Stadtrand, und die verfallene Bausubstanz soll saniert und stabilisiert oder gleich ganz abgerissen werden. Notwendige Reformen sind das zweifellos, doch die jetzigen Bewohner von Kumkapi werden dabei wahrscheinlich den Weg ihrer griechischen und armenischen Vorgänger gehen und das Viertel räumen müssen. Was bleibt, sind nur die Nächte.

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