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Kultur: Italien wählt: Moral ist fast ein Schimpfwort - Der Schriftsteller Sandro Veronesi im Interview

Sandro Veronesi, Romancier und Essayist, wurde 1959 in Florenz geboren. Sein jüngster Roman "Die Macht vergangener Zeiten" erscheint im Sommer bei Bertelsmann.

Sandro Veronesi, Romancier und Essayist, wurde 1959 in Florenz geboren. Sein jüngster Roman "Die Macht vergangener Zeiten" erscheint im Sommer bei Bertelsmann. In all seinen Arbeiten (ab 1992 schrieb er für die "Unitá", jetzt für den "Corriere della sera") spart der Autor nicht mit Spott gegen die Mächtigen.

Herr Veronesi, wird Supermanager Berlusconi am Sonntag die Wahlen gewinnen?

Darauf lässt in der Tat alles schließen. Die Erfahrung mit seiner ersten Regierungszeit lehrt uns jedoch, dass es eher die Frage ist, wie lange sich Berlusconi halten wird. Denn Politik besteht in der klugen Kunst des Kompromisses: in etwas, was ein Abenteurer wie Berlusconi verachtet.

Wie kommt es, dass dieser superreiche Cavaliere - Herr über Fernsehgesellschaften, Zeitungen und ganze Stadtteile - die Italiener derart fasziniert?

Bereits 1993 hat Berlusconi die Italiener begeistert, als er innerhalb einer Nacht die Geschäftssitze seiner Firma "Publitalia" in ebensoviele Sitze für seine Partei umwandelte. Jahrelang hat er alle möglichen Produkte verkauft: auch sich selbst als Politiker.

Aber wie kommt es, dass die Italiener bereit sind, sich ein politisch derart "künstliches" Produkt wie Silvio Berlusconi zu "kaufen"?

Tatsache ist, dass wir Italiener historisch gegen Gestalten wie Berlusconi nicht gewappnet sind. In allen anderen Ländern Europas gibt es eine Kultur und einen Gesetzesapparat, der den Aufstieg solcher Persönlichkeiten unmöglich macht. Sogar in Amerika ist ein Multimillionär und Outsider wie Ross Perot in der Politik nicht weit gekommen.

Wenn ein Tycoon wie Leo Kirch morgen in die Politik ginge, würde ihn in Deutschland keiner ernst nehmen, oder irre ich mich?

Auch Leo Kirch beeinflusst bestimmte Persönlichkeiten in der deutschen Politik, allerdings indirekt. Im Übrigen ist es in der ganzen Welt so, dass die großen Industriekonzerne ihre Interessen geltend machen: indirekt und unter Einhaltung der demokratischen Spielregeln. Nur in Italien decken sich die Interessen eines Industriekonzerns, nämlich dem Berlusconis, direkt mit dem Programm der "Forza Italia".

Berlusconi hat ernsthafte Probleme mit der Justiz. In Deutschland musste Helmut Kohl den Vorsitz der CDU wegen der Parteispendenaffäre räumen. Wie kommt es, dass Berlusconi und andere Politiker in Italien nicht einmal gehen müssen, wenn sie in flagranti erwischt werden?

Weil er Mittel besitzt, von denen andere nur träumen können: In der italienischen Medienlandschaft kontrolliert er die Hälfte des Werbemarkts, die Hälfte des Fernseh- und Nachrichtenmarkts. Außerdem sind Berlusconis Vergehen im Grunde die gleichen, die viele Italiener gern begehen würden oder begehen. Die Steuergesetze und andere soziale Verpflichtungen werden in Italien als ungerechte Last empfunden. Die Neigung des Italieners, auf den Staat zu pfeifen, wird durch Berlusconi aufs Beste vertreten.

Der wahre Pinocchio Italiens ist Berlusconi?

Nein, Pinocchio ist ein gutmütiger Knabe. Er erzählt zwei, drei Lügen, und schon wird seine Nase lang: der Einzige, der in Italien nicht schwindelt, ist der arme Pinocchio. Berlusconi ist höchstens das Männchen, das Pinocchio und die andere Kinder ins Schlaraffenland bringt. Schade nur, dass jeder, der ihm glaubt, sich in einen Esel verwandelt.

In Ihrem letzten Buch, "Die Macht der Erinnerung", erkennt man zwischen den Zeilen die Gestalt Giulio Andreottis. Welche Unterschiede gibt es zwischen dieser grauen Eminenz und Berlusconi?

Andreotti hat mit seiner Christdemokratischen Partei die italienische Politik über vierzig Jahre gelenkt; er hat unser Land nach seinem Bild und Ebenbild anthropologisch geformt. Gut und Böse Italiens verkörpert er auf exemplarische Weise. Andreotti war äußerst harten Attacken durch die Justiz ausgesetzt und ist daraus mit einem Freispruch hervorgegangen. Er hat sich in diesem Zusammenhang nicht gegen das Gesetz aufgelehnt. Berlusconi tut dies dagegen sehr wohl.Sein Vorgehen ist aufrührerisch; im Grunde ist er ein Rebell. Vielleicht ist das der Punkt, der die Italiener am Cavaliere am stärksten bezaubert: sein offener Kampf gegen die Macht, die Macht der Gesetze.

Wenn Berlusconi an die Regierung kommt, dann gemeinsam mit Fini und Umberto Bossi von der Lega Nord. Was halten Sie von diesem Trio?

Fini mit seiner Alleanza-Nazionale hat sich zwar längst von der faschistischen Vergangenheit distanziert, doch die Leiche im Schrank seiner Partei bleibt. Und Bossi hat keine andere Wahl, als sich so stark wie möglich des Rassismus zu bedienen.

Was ist, wenn der Rebell, der Neofaschist und der Rassist an die Macht kommen? Wird das übrige Europa wie im Falle Haiders seiner Empörung Luft machen?

Ich glaube nicht. Das Ränkespiel zwischen den drei Persönlichkeiten wird den Anforderungen des Alltags und den Herausforderungen der konkreten politischen Verwaltungsarbeit nicht standhalten. Ich denke vor allem an den kulturellen Schaden, den die drei Herren auslösen würden; im Verlauf einer Legislaturperiode würde die Toleranz gegenüber politischen Dummheiten auf erschreckende Weise steigen. In Frankreich denkt niemand ernsthaft daran, Le Pen aus seiner reaktionären Ecke herauszuholen. In Italien laufen wir Gefahr, durch Berlusconi einen so gefährlichen Narren wie Bossi zu legitimieren.

Wie kommt es, dass sich ein Schriftsteller, der sieben Romane geschrieben hat und die renommierten Literaturpreise Camprello und Viareggio bekommen hat, sich so stark für Politik interessiert?

Das Stück Leben, das ich und meine Generation zurückgelegt haben, steht nicht in den Geschichtsbüchern, sondern ist für alle sichtbar. Daraus schöpfe ich die kleinen Geschichten, die familiären Dramen und bürgerlichen Typen, die in meinen Romanen auftauchen. Klar, dass mich das politische Umfeld rund um diese Figuren interessiert.

Wer aber den Roman mit dem politischen Essay verwechselt, begeht einen schweren Fehler. Aus diesem Grund begeistert mich zum Beispiel Günter Grass nicht besonders. In seinen Büchern weiß man nie, wo der Romancier aufhört und der Politiker anfängt.

Basiert die Ironie in Ihren Büchern auf der italienischen Tradition, von Bocaccio bis Ariost, oder auf der Tatsache, dass Sie ein Linker sind?

Historisch gesehen war die Ironie immer eine Waffe der Schwachen und Besiegten. Daher ist es nur logisch, dass sich die linke Literatur der Ironie bedient. Dennoch habe ich keine klaren politischen Wurzeln, weder als Schriftsteller noch als Individuum; ich kämpfe in keiner Partei und habe in meiner Jugend keiner linken Organisation angehört. Sicher, im heutigen Italien stehe ich weit links, aber vielleicht nur, weil die Welt in der Zwischenzeit stark nach rechts gerückt ist.

Der Titel Ihres Romans "Die Macht der Erinnerung" zitiert ein Gedicht von Pier Paolo Pasolini. Was bedeutet Pasolini heute für die italienische Literatur?

Pasolini verkörpert eine literarische Minderheit innerhalb unseres Panoramas, die in den protestantischen Ländern sehr präsent ist. Seine Literatur ist - ebenso wie die Sciascias - moralisch. Moral ist aber, anders als in Deutschland, in Italien fast ein Schimpfwort. Dennoch war Pasolini - auch durch seine Biografie und sein tragisches Ende - einer der ganz wenigen Dichter, die diesem Begriff und seiner literarischen Funktion in Italien Glanz verliehen haben. Ihn aus der modernen italienischen Literatur auszuklammern, wäre, als würde man Christus aus dem Christentum ausklammern. Damit wir uns richtig verstehen, wir hatten sehr viel bessere Schriftsteller als ihn, aber keine Persönlichkeit, die wie er in seinem Leben und Werk die konkrete Idee des literarischen Engagements verkörpert hat.

Herr Veronesi[wird Supermanager Berlusconi am Son]

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