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Kultur: Jäher Splitter Gegenwart

Das junge osteuropäische Kino spielt vor allem auf dem Lande. Ein Blick zurück auf das 12. Cottbuser Filmfestival

Im 12. Jahr des Festivals schien erstmals alles zu stimmen. Die Finanzierung war nicht erst am Abend vorher gesichert, und die Wettbewerbsfilme, versprach Festivalchef Roland Rust, sind besser als je zuvor. Aber was heißt eigentlich besser? Nun, moderner, jünger, großstädtischer, schräger, westlicher – normaler eben. So hat es Rust wohl gemeint. Nicht diese poetische Schwermut, wobei Schwermut nur ein anderer Name für Poesie ist. Gibt es Hochgeschwindigkeitspoesie? Gibt es schnelle Schwermut?

Cottbus hatte schon in den letzten Jahren ungemein schnell-grell-schräge Großstadt- Kriminal-Normalfilme, und die Regisseure werden schließlich immer jünger. In den Cottbuser Wettbewerb kommt nur, wer seinen ersten bis höchstens dritten Film gemacht hat. So ist Cottbus beinahe ein Newcomer-Festival der um 197O Geborenen.

Der Russe Alexander Kott ist Jahrgang 1973. Und er führt uns – kaum zu glauben – gleich aufs Dorf. In die unerschlossenen Weiten der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Als das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen noch ein anderes war, erklärt sehr ernsthaft der kaum Dreißigjährige. Solche Menschen wie bei ihm gebe es heute nicht mehr, Jetzt-Menschen seien vor allem Maskenträger. „Fuhren zwei Fahrer“ ist eine ländliche Komödie im Stil der Vierziger Jahre, aber voll sublimer Gegenwartsironie. Ein sozialistisches Western-Fort im Osten, nur dass über dem sämtliche Triumphbögen der Geschichte zitierenden Eingangstor „CCCP“ steht und gleich dahinter ein ungeheures Fallschirmspringer-Denkmal. Über allem aber tönt der „Big Brother“ des Dorfsowjet-Sozialismus – der Lautsprecher, dessen markige, allmächtige Stimme jedoch ungemein wackelkontaktanfällig ist.

Dies ist die Kulisse für den Liebeswettbewerb des Postfliegers und des Post-LKW-Fahrers um das Herz der schönen Rajka. Ein rundes, sympathisches, vielleicht aber auch symptomatisches Flucht-aus-der-Gegenwart-Werk. Was ist geschehen, wenn die Jungen solche Einfühlung in das Längstvergangene beweisen?

Wir gedenken Rusts Ankündigung des modernen Films, bereiten uns abermals auf die volle, ungeminderte grelle Jetzt-Zeit vor und sind – schon wieder auf dem Dorf. Diesmal ist es eine ländliche Komödie im Stile der tschechischen Sechziger Jahre. Aber ihr Regisseur Bohdan Sláma ist im Gegensatz zu Alexander Kott ziemlich alt, schon etwas über dreißig.

Die Gegenwartsbezogenheit des Festival-Gewinners „Divoké Vcely“ („Wilde Bienen“) erkennt man vor allem daran, dass „Divoké Vcely“ zwar im heutigen Nordmähren spielt, aber ein Unterschied zum Nordmähren der Sechziger Jahre nicht unbedingt nachweisbar ist. Die alten Häuser. Die alten Bewohner – jedenfalls sehen sie älter aus, als sie sind, was vor allem am guten alten giftgrünen Pfefferminzlikör liegt. Und sogar die jungen Nordmähren kehren immer wieder nach Hause zurück: Der Alkoholismus gehört hier nun mal zum Brauchtum, weshalb man anderswo bald einen Nordmähren als Nordmähren erkennt. Sowas macht sehr einsam in der Fremde.

Also beginnt „Divoké Vcely“ mit einem sagenhaften Umtrunk der alten Dorffrauen, in deren frivole Mitte der junge Kaja gerät. Kaja aber liebt Bozka, die Tochter der Dorfhure, die wiederum – jäher Splitter Gegenwart – den dorfeigenen Michael Jackson liebt. Der nordmährische Michael Jackson bringt es so weit, dass Bozka in der Dorfkneipe in aller Öffentlichkeit Pepsi trinkt statt Bier. In ruhigen, großen Bildern fotografiert, besitzt auch „Divoké Vcely“ jenen feinen östlichen Humor vieler Festival-Filme, der unmittelbar einer des filmischen Blicks ist. Einen unverwechselbaren Bilder-Witz.

Als unangefochtener Meister des Bilderwitzes erwies sich „Hukkle“, Gewinner des Spezial-, Filmpresse- und Publikumspreises. Sein Regisseur ist Jahrgang 1974 und sein Film spielt – wo denn sonst? – auf dem Dorf. Kein russisches, kein nordmährisches, sondern ein ungarisches Dorf. Stil der Vierziger oder der Sechziger Jahre? Nein, den Stil von Györgi Pálfi gibt es noch gar nicht. „Hukkle“ ist ein absoluter Solitär.

Gewöhnlich beobachten Menschen auf Dörfern Störche, aber das glauben bloß wir: In Wirklichkeit, das zeigt „Hukkle“, beobachten die Störche uns. Auch die Frösche, Schweine und Insekten sehen uns an – und wie! Pálfi und sein unglaublicher Kameramann Gergely Pohárnok finden jedem Lebewesen seinen eigenen Blick auf die Welt und schauen obendrein auf Tiere und Menschen mit einem Zusatz-Auge, das weder menschlich noch tierisch sein kann. Also göttlich? Wohl auch nicht, denn „Hukkle“ sieht gleichsam den Urwitz in der Schöpfung jedes Dinges, und Gott ist kein Humorist. Zudem ist die Hundsgemeinheit der Geschichte, die „Hukkle“ erzählt, indem er sich scheinbar konsequent weigert, überhaupt eine Geschichte zu erzählen, atemberaubend und absolut ungöttlich. „Hukkle“ ist eine Kreuzung aus dem Film „Mikrokosmos“ und schwärzestem Kriminalstück. Ähnlich aus jedem Rahmen fallend und diabolisch verspielt ist nur noch der tschechische „Rok Dábla“ (Jahr des Teufels) - ein von vorn bis hinten gefälschter poetischer Dokumentarfilm (!) über Folksänger, Entziehungsanstalten und Engel. Was sonst soll man über Engel drehen als Dokumentarfilme?

Gegen die Avantgarde der jungen Dorffilme schien das zeitgenössische Wackel-Großstadtkino in Cottbus beinahe provinziell, mit Ausnahme zweier bedrückend klaustrophobischer Studien von jedoch exemplarischer Langsamkeit („Slepa Pega – Blinder Fleck“ aus Slowenien und „Smej – Der Drachen“ aus Russland). Aber einen Film gab es doch, der dem jungen urbanen modernen Jetztzeit-Kino am nächsten kam. „Occident“, der Debütfilm des Rumänen Cristian Mungiu.

Drei kunstvoll ineinandergefaltete Geschichten, die eigentlich nur eine sind und von der Grundfrage der modernen rumänischen Existenz handeln: Wie komme ich noch heute in den Westen? Keine Frage, dass es sich hier um eine Tragödie handelt, aber welches Genre könnte das besser ausdrücken als die Komödie? Nach „Occident“ möchte man glauben, die Rumänen haben nie etwas anderes gemacht als Filme, und Cristian Mungiu hat den Staffelstab einfach übernommen. Aber er kommt aus einem filmischen No-name-Land, und unverdient preislos kehrt er dorthin zurück.

Auch das diesjährige „Fokus“-Land Polen ging leer aus. Roman Polanskis „Der Pianist“ wurde zu Beginn des Festivals in Cottbus und im polnischen Gubin gezeigt. Später sahen wir die allerersten Studenten-Kurzfilme des Meisters: bitterböse, skurril, klaustrophobisch, poetisch – und, auch sie, schwermütig. Wir brauchen keine Sorge zu haben. Die Ingredienzen wirken fort.

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