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Jedes Waldstück, jedes Feld in Deutschland hat einen Besitzer. Das Wild gehört keinem. Szene aus Agenskirchners Film "Wem gehört die Natur?"

© Broadview Pictures

Jagd in Deutschland: Killing Bambi

Die Dokumentaristin Alice Agneskirchner hat mit "Wem gehört die Natur?" einen Film über die Jagd gedreht. Hier schreibt sie über das Wild in deutschen Landen und den Quotendruck der Jäger.

„Der Jäger jagt nicht, um zu töten, sondern um gejagt zu haben", schreibt der spanische Philosoph José Ortega y Gasset in seinen „Meditationen über die Jagd“. Deutschland im Herbst, die Jagd hat Hochsaison. Die Hirsche röhren, weil sie brünftig sind, Hubertusmessen werden mit Waldhornbläsern zelebriert, Treibjagden werden veranstaltet und auf den Speisekarten der Gaststätten stehen Wildgerichte.

Jahr für Jahr werden in Deutschland circa 1,2 Millionen Rehe, 600 000 Wildschweine, 80 000 Hirsche, 400 000 Enten, 150 000 Fasanen und 300 000 Hasen erlegt. Jagdgegner fordern aus ethischen Gründen ein Jagdverbot und finden vor allem bei Stadtbewohnern Unterstützung. Wie kommt das? Die Rückkehr des Wolfes, des „natürlichen Jägers“ löst nicht nur Angst, sondern auch Begeisterung aus, aber der Mensch, der Jäger am Waldesrand, gilt in den Augen vieler als Mörder. Dabei sind es die Jäger der Steinzeit, die unsere Zivilisation begründet haben. Durch sie kam Nahrung und Kleidung unter die Leute, auch beförderten sie die Kommunikation: Eine Mammutjagd ließ sich nicht ohne Absprachen durchführen. Die Höhlenmalereien zeugen davon. Und der einsame Jäger in der afrikanischen Steppe, der Indianer auf Büffeljagd inspiriert Mythen und Bilder, die uns tief berühren. Ebenso tief wie Bambi.

Der österreichisch-jüdische Autor Felix Salten schrieb 1926 einen Roman über das Heranwachsen eines Rehs: „Bambi – eine Lebensgeschichte aus dem Walde“. Ein Weltbestseller. Walt Disney erwarb die Filmrechte; in Ermangelung von Rehen auf dem nordamerikanischen Kontinent ließ er Weißwedelhirsche (ein Streitpunkt unter Authentizitätsfanatikern) nach Hollywood bringen, damit die Zeichner deren Bewegungen studieren können.

Bambi mit seinem Freund, dem Hasen Klopfer, im Disney-Trickfilmklassiker von 1942.
Bambi mit seinem Freund, dem Hasen Klopfer, im Disney-Trickfilmklassiker von 1942.

© dpa

1942 hatte „Bambi“ Premiere, vor 75 Jahren. Fünf Mal wurde der Zeichentrickfilm weltweit in die Kinos gebracht, in der immer identischer Fassung. Die Geschichte des kleinen Rehbocks, der mit den anderen Tieren spricht, den Abschuss seiner Mutter erlebt und die Nachfolge seines Vaters als König des Waldes antritt, gehört zum westlichen Kulturgut. Der Jäger ist darin eine gesichtslose Gefahr, die das Leben der Tiere zerstört. Unsere Ablehnung, Tiere zu essen, die wir als „süß“ oder menschlich wahrnehmen, nennt man Bambi-Effekt.

Wem gehören eigentlich Bambi und Co.? Kann jeder der 381000 deutschen Jagdscheininhaber – 67 000 davon sind Inhaberinnen – schießen, worauf er oder sie gerade Lust oder Appetit hat? Haben sie wirklich Spaß am Töten? Diese Fragen haben mich nicht mehr losgelassen. Als Berliner Filmemacherin bin ich zurückgekehrt in meine Bayerische Heimat rund um den Tegernsee. Bei den Dreharbeiten für meinen Kino-Dokumentarfilm „ Wem gehört die Natur?“ habe ich einen erbitterten Kampf miterlebt, in dem es um immer höhere Abschussquoten geht, um komplett „rotwildfrei zu haltende Gebiete“, um das optimal zusammengesetze Bergmischwaldportfolio und um die Aufhebung der Schonzeit der Gams, einer Bergziege der Hochalpen. Überraschenderweise sind es die Jäger, die den Tierbestand erhalten wollen, die vor allem die Gams nicht mehr schießen wollen. Und es sind die staatlichen Forstbetriebe, die die strikte Einhaltung der Abschussquoten überwachen.

Reiche gehen gern auf die Jagd? Nur 1 Prozent der deutschen Jäger sind reich

Fast 500 Jahre war die Jagd in Europa Sache der höfischen Gesellschaft. Die bäuerliche Bevölkerung musste als Treiber dienen, für sie war die Jagd verboten, auch wenn sie ihre Äcker vor Wildschäden schützen wollten. Im Bauernaufstand 1848 war das allgemeine Jagdrecht eine zentrale Forderung, es wurde jedoch nur kurzzeitig umgesetzt. Das weckte Sympathien für die Wilderei. Wilderer wie der Jennerwein sind noch heute bayerische Volkshelden mit dem Status eines Robin Hood.

Bis ins 20. Jahrhundert blieb die Jagd vielfach ein Privileg der Mächtigen. Hermann Göring ernannte sich 1936 zum NS-Reichsjägermeister. Die Brandenburger Schorfheide wurde von ihm als Wildpark mit jagdlicher Nutzung für Parteimitglieder angelegt, später war Erich Honecker dort gerne Jagdgast. Auch heute ist von Bankvorständen, Staatsoberhäuptern oder Industriellen ab und an zu lesen, dass sie irgendwo zur Jagd waren. Der Jäger ist in den Augen vieler ein reicher Mensch, der nichts Besseres zu tun hat, als auf Tiere zu schießen. Aber das mit dem Reichsein trifft heute statistisch nur auf ein Prozent der Jäger zu.

Warum die Bauern und die Landwirtschaft Jäger brauchen

Jäger im Gebirge. Eine weitere Szene aus "Wem gehört die Natur?".
Jäger im Gebirge. Eine weitere Szene aus "Wem gehört die Natur?".

© Broadview Pictures

Das deutsche Jagdgesetz gibt den Jägern „die Befugnis, in einem bestimmten Gebiet die dort wildlebenden Tiere zu hegen und auf sie die Jagd auszuüben“. Sie gehören niemandem, dürfen aber von Jägern in dessen Revier – und nur dort – gejagt werden. Wie viele, das legen die Jagdbehörden in den Landwirtschaftsministerien fest. Die Quoten steigen, die Jäger empfinden sich mehr und mehr unter Druck. Die Tiere wissen von all dem nichts und führen ihr Leben. Jedes Reh bekommt im Frühjahr ein oder zwei Kitze, jede Hirschkuh ein Kalb, jede Wildschweinbache fünf bis fünfzehn Frischlinge. Viele natürliche Feinde gibt es nicht, auch wenn in Deutschland besagte Wolfsrudel wieder frei leben. Die Zahl der von ihnen gerissenen Tiere würde allerdings nicht ausreichen, den jetzigen Wildbestand auf einer Konstante zu halten.

Die Gams, warnen viele Jäger, steht vor der Ausrottung

Zurück ins Voralpenland, zurück zu meinem Film, für den ich den Jäger Hans mehrfach bei der Jagd begleitet habe. Ein Bayer, wie man ihn sich vorstellt, er stand viele Jahre lang als oberster Jäger einem riesigen Voralpen-Waldgebiet vor. Heute sagt er, es ist ein Verbrechen, was mit dem Wild und vor allem mit der Gams geschieht. Das Gebirge wird landwirtschaftlich nicht genutzt, aber staatlich aufgeforstet. Seit 30 Jahren. Die Gams lebt nur dort und im Winter sucht sie unter dem Schnee nach Nahrung – sie frisst auch junge Baumtriebe. Ob der Verbiss den Totalverlust oder nur ein Wachstumshemmnis des Baumes zur Folge hat, ist umstritten. Aber laut Schutzwaldsanierungsverordnung ist die Schonzeit für die Gams in diesen Gebieten aufgehoben. Böcke und weibliche Tiere unter drei Jahren müssen dort ganzjährig gejagt werden.

Die Folge: Die Gams steht vor der Ausrottung. Sagt der Hans, sagen viele Jäger. Die Jägerin Christl hat deshalb den Verein „Wildes Bayern e.V.“ gegründet, zur Rettung der Gams. Jäger wären die längste Zeit Jäger gewesen, wenn es keine Wildtiere mehr gäbe. Und vielleicht gilt das ja auch umgekehrt.

Die Gams, warnen viele Jäger, sind von der Ausrottung bedroht. Szene aus "Wem gehört die Natur?".
Die Gams, warnen viele Jäger, sind von der Ausrottung bedroht. Szene aus "Wem gehört die Natur?".

© Broadview Pictures

Es gibt in Europa nämlich keine „freie“ Natur. Jede Fläche wird forstwirtschaftlich oder agrarwirtschaftlich genutzt, jede Fläche gehört jemandem . Die Wildtiere fressen sozusagen immer einem Besitzer etwas weg. Sie werden geduldet, solange die Schäden im Rahmen bleiben. Was würde geschehen, wenn nicht gejagt würde? Bauern und Forstwirte müssten mit den Wildschweinrotten, Rotwildherden und Millionen Rehen auf den Feldern und in den Wäldern leben – die landwirtschaftlichen Schäden würden beständig steigen. Die einzigen natürlichen Feinde wären neben den Wölfen und Adlern die Autofahrer – jährlich kommt es zu rund 250 000 Wildunfällen. Ohne die Jagd wären es zweifellos mehr. Wie lange würde unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft das tolerieren?

Was ist moralischer, der Schlachthof oder die Jagd in freier Natur?

Warum also werfen wir den Jägern das Töten vor? Weil wir vermuten, dass sie es „nur“ zum Spaß tun? In Ulrich Seidls Dokumentarfilm „Safari“ von 2016 sieht man „weiße Jäger“, wie sie afrikanische Großtiere zur Strecke bringen. Das erweckt Abscheu – wohl auch, weil die Tiere besonders groß sind. Aber der Jäger im deutschen Wald hat kein wesentlich besseres Image. Als sei es moralisch verwerflicher, ein Reh mit einem gezielten Schuss zu erlegen, als im Supermarkt Hackfleisch zu kaufen.

Die Jäger selbst beschreiben das Einlassen auf die Jagd als besonderen Seinszustand. Ortega y Gasset nennt es das vollkommene Wachsein. Weil der Jäger sich immer neu auf die Jagdsituation mit dem Wild einstellt, das er nicht kontrollieren kann, nimmt es ihn zu 100 Prozent gefangen. Auf eine Art wird er dem Tier gleich.

Das Wildtier lebt in Freiheit, es erfüllt die Kriterien der Slow-Food-Bewegung

In Deutschland werden im Jahr 40 Millionen Hausschweine verspeist. Sie kamen nur zu diesem Zweck auf die Welt. Ist derjenige, der Schwein für Schwein das Bolzenschussgerät bedient, weniger am Tod beteiligt als der Jäger? Solche moralisch-philosophischen Fragen verhandelt übrigens auch Ildikó Enyedis allegorische Liebesgeschichte „Körper und Seele“, die auf einem ungarischen Schlachthof spielt sowie bei zwei Hirschen im Wald; der Film gewann dieses Jahr auf der Berlinale den Goldenen Bären.

Das Rind stirbt zusammengepfercht im Gatter; das Wildtier lebt in Freiheit. Es erfüllt die ethischen Kriterien der Slow-Food-Bewegung: hochwertige Qualität, ökologische Nachhaltigkeit und die Erhaltung regionaler Esstraditionen. Der Tod durch den Jäger kommt unvermutet und schmerzfrei.

Alice Agneskirchner lebt als Dokumentarfilmerin in Berlin. Ihr Kinofilm „Wem gehört die Natur?“ feiert an diesem Mittwoch auf den Internationalen Filmtagen in Hof seine Uraufführung und kommt nächstes Frühjahr ins Kino.

Alice Agneskirchner

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