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Kultur: Jagen, Bersten

KLASSIK (1)

Wie eine Figur von Marthaler huscht Maurizio Pollini an diesem Karsamstagnachmittag über die Bühne der Philharmonie : das lichte Haupthaar ansatzweise genialisch zerzaust, den Einreiher überm schmächtigen Leib sorgsam zugeknöpft. Zwei Stunden später, nach einer fulminant unversöhnlichen Wiedergabe der „Appassionata“, wird ihm aus dem Publikum eine langstielige Rose gereicht. Pollini bedankt sich verlegen und geht ab, wobei er die Rose im 90-Grad-Winkel, wie ein gezücktes Schwert vor sich her trägt.

Der Meisterpianist als Wesen nicht von dieser Welt, vollständig in sich versponnen, ja versunken? Was Beethovens „Appassionata“ angeht, so schien Pollini allerdings entschlossen, mit ihrem Beinamen Ernst zu machen. Wo andere sich noch dem klassischen Ebenmaß der benachbarten „Waldstein“-Sonate verpflichtet fühlen, da setzt er ganz aufs Titanische, auf rasende Stürme und stöhnende Entladungen. Hier gibt es keine wohlgestalten Übergänge mehr, sagt Pollini, hier herrschen Mächte vor, die nichts Vermitteltes kennen, und taucht auch das Andante des zweiten Satzes ins atemberaubend fahle, elfenbeinerne Geisterlicht des nahen Spätwerks. Im Finale dann wird endgültig jede Architektur, jede Ökonomie außer Kraft gesetzt: der ganze Satz eine einzige wilde Jagd, durch die Presto-Coda gleichermaßen auf die Spitze getrieben und ad absurdum geführt.

So gefahrlos Pollini all diese Ausbrüche technisch meistert, so sehr ihm hier nach wie vor alle Mittel zur Verfügung stehen – zu Herzen gehen will diese Musik nicht. Wozu die ganze intellektuelle Erregung, fragt man sich, wenn der Leidensgrund nicht mitschwingt? Ähnlich Abgehobenes, weil kaum wirklich dem Augenblick Geschuldetes galt auch für das Programm vor der Pause: berstende Stille und höchste Konzentration beim frühen Schönberg (Klavierstücke op. 11 und op. 19), herrlich mürbe Klangfarben und vollgriffige Schlichtheit beim späten Brahms (Fantasien op. 116). Frenetischer Festtage-Jubel.

Christine Lemke-Matwey

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