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Kultur: "Jahrestage": Wem die Jahresstunde schlägt

Ach Ja. Das hatten wir sechs Stunden lang gefürchtet.

Ach Ja. Das hatten wir sechs Stunden lang gefürchtet. Am Ende stürmen zwei schöne, junge Frauen ins Lebenselement Wasser, in rauschende Brandung vor hellem Horizont: ein junges, den Sonnenstrahlen entgegen eilendes Kind von elf Jahren an den Händen. Gleichzeitig erklimmen, bei Haare wirbelnder Brise, (fast) alle siebzig Darsteller der "Jahrestage", dieses vierteiligen Großunternehmens deutscher Fernsehkunst, die Dünen - und stehen da, wie zum Applaus. Fehlt nur noch, dass aus dem Off die fürchterliche Fernseh-Tante oder ihr nicht zu bremsender Nachplapperer von Klassik Radio säuselt: "Alles wird gut!"

Wie leise - und doch von mythischer Größe - inszeniert Johnson das Ende seiner (aller?) Geschichte am Meer. Eine junge Frau, die zum zweiten Mal einen Herz-Freund und damit, für alle Zeit, jedes Vertrauen in die Liebe verloren hat, sucht noch einmal ihren Englischlehrer auf, einen Mann, der ihr Vater, fast Großvater sein könnte. Mutter Gesine Cresspahl, Tochter Marie und der alte Herr aus der DDR treffen einander heimlich, an einem Strand in Dänemark. Und jetzt gibt es ein paar der schönsten Sätze deutscher Literatur. Drei Generationen, ein Bild von biblischer Innigkeit: "Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort, wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war."

Bei Johnson ist, anders als es Margarethe von Trotta, die Regisseurin dieses sich anbiedernden Frauenfilms möchte, der Tod allgegenwärtig - gerade wenn es um Liebe, Zeugung, Augenblicke von Lebenslust geht. Erzählt Gesine, die allein erziehende Mutter von Marie in New York 1968, im Jahr der Unruhen gegen den Vietnam-Krieg, von ihrer Heimat Mecklenburg doch "für wenn ich tot bin".

Vergehen - als Kraft der Erinnerung. Tod - als Antrieb des Erzählens. Angst - als Mutmacher fürs Leben. Diese Quellen der Kunst Johnsons sind in Trottas hübsch bebilderter Familien-Soap versiegt.

Peter Demetz, der in Amerika lehrende Germanist aus Prag, einer der klügsten Leser und Kritiker, die wir kennen, hat Johnsons Buch zugeschlagen mit der Bemerkung, die Heldin, Gesine Cresspahl, sei ja wohl eine unsinnliche, an Sex wenig interessierte Frau. Wenn schon Philologen nicht mehr zwischen den Zeilen lesen können! Gibt es nicht die Nachmittage im Versteck des Inselsees mit dem Freund Pius ("Wir waren Das Paar"). Wo in der jüngeren Literatur brennt mehr Liebe, als wenn sich der Eisenbahner Jakob Abs, später Vater von Gesines Tochter, den Kopf kahl scheren lässt, weil seiner Freundin, nach der Typhus-Erkrankung, lange Zeit keine Haare wachsen? Und weil dieser (auch mit sich selber) verquere Uwe Johnson ein Grüner vor allen Grünen war, sei auch dies vermerkt: eine Beobachtung von einer Scham, die man sich im heutigen Fernsehen schon gar nicht mehr vorstellen kann. Die junge Gesine, Landkind, ist dabei, als zwei Pferde zusammengeführt werden: "Bevor der Stute unter dem Sprung des Hengstes die Hinterbeine wankten, wandte sie einen Moment lang den Kopf, als bäte sie uns wegzugehen."

Wie will, wie kann man solche "Scham", auch eine Spielart von Erotik, verfilmen? Also gibt es "Bett-Szenen" - dramaturgisch wenig geschickt kurz hintereinander mit Gesines beiden Partnern, Jakob Abs und Dietrich Erichson, im verstolperten Schlussteil, wenn Vorgeschichte, mühselig, nachgetragen werden muss. Beide Male muss die halbnackte Gesine Silben keuchen, die ihr Johnson erspart: "Ich liebe dich." Überhaupt besteht zwischen allen (notwendigerweise) hinzugefügten Texten und Johnsons Sprache ein quälendes Missverhältnis.

Ein Elend, wohin man sechs Stunden lang guckt und hört. Dabei steckt so viel gute Arbeit drin. Seit über einem Jahrzehnt, seit dem frühen Tod Uwe Johnsons 1984, bemühen sich einige der besten Leute des deutschen Fernsehens um einen Film über die Zeit zwischen 1900 bis zum Terror der Nazis. Wäre dieser Film, der mit der Erzählstruktur gleitender Übergänge und Rückblenden arbeiten muss, geglückt, wenn der zunächst ausgeguckte Frank Beyer Regie geführt hätte?

Die Spannung (Vietnamkrieg und Proteste hier - Nazismus und Krieg dort) wird für den nie überraschenden, alle Erwartungen eines müden Fernsehzuschauers bedienenden Film nie zu einer Herausforderung. Und das bei großer Besetzung: Suzanne von Borsody als Gesine, Hanns Zischler, Edgar Selge, Nina Hoger, Kai Scheve, Peter Roggisch, Karin Gregorek, Jutta Wachowiak, Hans Kremer - und der alle an Ausstrahlungskraft überragende Matthias Habich als Vater Cresspahl. Nicht zu vergessen die stille Glut von Susanna Simon, die sich als Lisbeth Cresspahl opfert, um alle Schuld des eigenen Volkes an den verfolgten Juden zu sühnen. Dramaturg Martin Wiebel und die Drehbuchautoren Christoph Busch und Peter Steinbach haben am Schluss ihre liebe Not, anekdotische Einzelheiten der Vorgeschichte (aus Johnsons erstem Buch, "Mutmaßungen über Jakob") einzuflicken. "Jahrestage"? Allenfalls Jahresstunden.

Von Johnsons überwältigender Kraft der Darstellung zweier Epochen, von seiner zwischen Ironie und Genauigkeit schillernden, den Leser ständig fordernden Sprachkunst, vor allem von seiner moralischen Bereitschaft, sich einer Schuld zu stellen, der sich ein Volk, seit Globkes & Filbingers Zeiten, bis zu den Morden heute, die nur die Folgen solcher Feigheit sind - : von all dem politischen Anspruch ist in dieser Familien-Saga mit dem kaum erträglichen Sirup von Enjott Schneiders Musik wenig zu spüren. Und doch: Neben all den an Einfalt nicht zu unterbietenden Talk-Shows müssen wir schon dankbar sein, dass die ARD eine so tapfere Unternehmung überhaupt noch wagt.

Rolf Michaelis

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