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Ein Kreis im Kornfeld. Auf dem flachen Land blühen die Verschwörungstheorien.

© IMAGO

Jan Brandts ambitionierter Debütroman „Gegen die Welt“: Verschwörungstheorien auf dem Flachland

Das Leben ist alles, was Provinz ist: Hackfressen, Heavy Metal, Dallas, Tschernobyl – willkommen in den 80ern!

Allein beim Entfernen des Schutzumschlags wird man mit der thematischen Fülle dieses Romans konfrontiert – und seiner Ambitioniertheit. Auf den rostroten Buchdeckeln stehen in weißer Schrift säuberlich neben- und untereinander Hunderte von Namen, Begriffen und Schlagwörtern, die in dem Roman vorkommen und die insbesondere auf die Zeit verweisen, in der er spielt. Zum Beispiel Tschernobyl, Apfelshampoo, Dallas, Jever, Hackfresse, Klosterfrau Melissengeist, Horst Hrubesch, Dieter Schatzschneider, Judas Priest. Willkommen in den achtziger Jahren! Die jedoch hier auf ihrer Oberfläche mit einer Technik erfasst werden, die an die Blütezeit der Popliteratur viele Jahre später gemahnt: dem Listenwesen.

Aber auch bei der Lektüre der nicht weniger als 927 Seiten wird man oft gewahr, wie vollständig hier ein Autor eine doch sehr kleine Welt abbilden will. Die besteht aus einem kleinen, fiktiven Ort in Ostfriesland namens Jericho, seiner Umgebung und seinen Bewohnern. Und zwar zu einer Zeit, in die das Reaktorversagen in Tschernobyl oder die Maueröffnung fallen, ohne dass diese Ereignisse zunächst größere Spuren in Jericho hinterlassen.

„Gegen die Welt“ heißt dieser Roman. Er stammt von dem 1974 in Leer in Ostfriesland geborenen und in Berlin lebenden Journalisten und Schriftsteller Jan Brandt. Imponierend ist allein der Umfang dieses Erstlings, an dem der literarisch bislang nur mit kurzen Erzählungen hervorgetretene Brandt seit Beginn der nuller Jahre gearbeitet hat. In dieser Zeit muss er sich viel Selbstbewusstsein zugelegt haben. Denn imponierend ist auch, mit was für einer Genauigkeit und selbstverständlichen Gemächlichkeit Brandt beginnt, wie er die Welt seiner Hauptfigur, des jungen Drogistensohnes Daniel Kuper, und seiner Eltern Bernhard, genannt „Hard“, und Birgit, gestaltet und auspinselt. Da gibt es also den Jungen, der ein bisschen merkwürdig ist. Weil er seinem Freund Volker eins mit dem Spaten überzieht, weil er sich manchmal wie „ferngesteuert“ fühlt, weil er überhaupt, das zeigt sich bald, nicht immer ganz von dieser Welt zu sein scheint, mit der Folge, ein veritables Außenseiterdasein in Jericho zu führen. Dann gibt es seinen leutseligen Vater, ein kreativer Geschäftsmann, Inhaber eines Drogeriemarktes und Fußballfan. Und da ist Daniels Mutter, die noch einmal Zwillinge bekommen hat, sich aber nach einer Rückkehr ins Berufsleben sehnt.

Lesen Sie auf Seite 2 mehr über Jan Brandts ambitioniertes Meisterwerk.

Jan Brandt
Jan Brandt

© U. Neumann/Verlag

Es passiert zwar eine Menge auf den ersten hundert Seiten. Es fällt Schnee im September, und im  Gefolge dieses Schneefalls taucht plötzlich ein riesiger Kreis in einem Maisfeld auf, den Daniel als Erster entdeckt: „Er konnte sich an nichts erinnern. Nur an das Schloss, das Schild an seinem Fahrrad, und dass er ins Maisfeld hineingegangen und dort auf eine Lichtung gestoßen war. Dann hatte ihn das Kälteelement schockgefroren und zu einem Kind der Minuswelt werden lassen – der Körper von Raureif überzogen, die Augen hart wie Diamanten, die Gegenwart erstarrt.“

Auffallender aber ist, dass bei Brandt eine Einkaufsliste nicht einfach eine Einkaufsliste ist, sondern er alles, was draufsteht, aufzählt, vom Kohlrabi über den „Vanillepudding für Julia“ und die „Götterspeise – Kirsche oder Waldmeister“ – für Andreas“ bis zum Bier. Oder eine Dorfversammlung nicht nur eine Dorfversammlung sein kann, sondern jeder einzelne Teilnehmer genannt wird. Oder dass Jericho nicht nur ein Ort mit ein paar für den Roman wichtigen Schauplätzen ist, sondern Daniel von einem Dachbodenversteck aus wirklich „das ganze Dorf“ überblickt, zum Beispiel „im Westen die Bahngleise, das Stellwerk, die Molkerei und Schlachterei und den Hammrich dahinter, das Strandhotel, die Puddingfabrik drüben am Deich“. Oder „Fisch Krause, Kanzlei Onken, die Blumentenne, Textil Vehndel und an der Ecke, dort, wo die Dorfstraße die Rathausstraße kreuzte, die Sparkasse.“

Diese Vollständigkeit, diese Totalerfassung der Jerichoer Welt gehört zum Erzählprogramm. Die erzählerischen Mittel allein reichen Brandt aber nicht, es muss auch formal noch viel mehr sein. Es beginnt mit ein paar nummerierten Seiten, die weiß bleiben, und es endet mit dem weißen Nichts. Es gibt Flyer, auf denen das Festprogramm des Schützenfestes steht oder die Drogerie Kuper mit ihren Sonderangeboten wirbt; es gibt zwei Textblöcke, die auf über 150 Seiten des Buches parallel zueinander laufen. Oben wird eine Geschichte von Daniel erzählt, wie er und seine Freunde den Mitschüler Peter Peters verprügeln, unten die des Zugführers, der Peters überfährt. Höhepunkt ist schließlich ein immer mal wieder matter, verschwommen werdender Schriftsatz auf einigen Seiten, der an Probleme beim Buchdruck denken lässt, vermutlich aber aktuelle Bewusstseinszustände von Daniel, den Schleier, der zwischen ihm und der Welt liegt, abbilden soll.

All das wirkt überinstrumentiert und steht im Gegensatz zu der bedächtig-konventionellen, stilistisch eher unauffälligen Erzählweise Brandts. Und es lenkt davon ab, dass Brandt wirklich etwas zu erzählen hat. Dass es nicht nur Großspurigkeit ist, wenn er mit der Wahl seines Ortsnamens auf das biblische Jericho genauso verweist wie auf Uwe Johnsons fiktives Jerichow aus „Mutmaßungen über Jakob“ und den „Jahrestagen“ (ob Peter Peters auch immer quer über die Gleise gegangen ist, wie Johnsons Jakob?). Ja, „Gegen die Welt“ ist ein ziemlich fulminanter Roman über die Provinz, über ihre Mentalität, über die vergeblichen Versuche Daniels, Birgits und so manchem anderen, ihr zu entkommen. Und ein Roman darüber, wie auch diese Provinzwelt einem steten Wandel unterliegt. Wie hier vieles innerhalb von zehn Jahren dem Untergang geweiht ist oder untergeht.

Brandt spielt geschickt mit der Symbolik biblischer Plagen, das demonstriert er mit eben jenem Schnee im Spätsommer oder einem wochenlang über dem Land liegenden Nebel. Auch die von den Bewohnern vermutete Bedrohung durch Außerirdische oder ungeklärte Hakenkreuz- und „Ich-liebe-dich“-Schmierereien auf Jerichos Hauswänden passen in dieses Bild. Und die Tiefflieger sind tagtägliche Realität. Konkreter wird Brandt, wenn er Daniels Vater Hard porträtiert und dessen Kampf als Einzelhändler gegen eine Handelskette wie Schlecker.

Überhaupt fühlt er sich immer wieder gekonnt nicht nur in seine pubertierenden Figuren wie eben Daniel oder dessen Freunde Onno, Rainer und Stefan ein (deren alle mit einem frühen Tod endenden Schicksale er nach und nach schildert), etwa in ihre begeisternde Kenntnis diverser Metal-Subgenres. Sondern gerade auch in die Lebensproblematik von Daniel Eltern Hard und Birgit, in die des zwiespältigen Pfarrers Meinders oder des tatkräftigen, von nazistischem Gedankengut nicht freien Bauunternehmers Losing.

Lesen Sie weiter: Warum Langatmigkeit bei "Gegen die Welt" Trumpf ist.

Anziehungskräfte besitzt „Gegen die Welt“ also genug. Jan Brandt erzählt überzeugend aus verschiedenen Perspektiven, er wechselt vielfach souverän die Zeitebenen. Und Jericho erinnert zumindest in seinem Wandel und dem Versuch, jede Straßenecke auszuleuchten, an Peter Kurzecks Lollar, nur eben zwanzig, dreißig Jahre später. Trotzdem hat man beim Lesen manche Durststrecke zu überwinden; stößt einen manche Passage in ihrer Detailverliebtheit nicht ab, aber doch raus aus dem Roman; ist zuweilen eine gewisse Langatmigkeit Trumpf. Zum Schluss hat Brandt, das verwundert nicht, gleich zwei Enden für seine Geschichte parat, die die Anziehungs- und Abstoßungskräfte seines Romans aus der Ich-Perspektive von Volker schön bündeln. Wieder wimmelt es von Einfällen, einmal mehr gibt es eine ganze Lebensgeschichte obendrauf, erzählt aus der Gegenwart des Jahres 2010. Und man muss auch noch einmal durch eine ganze Seite mit der Aufzählung einiger Oldtimer und ihrer technischen Details, die Volker in seiner Garage stehen hat. „Kein Debüt, ein Ereignis“, bewirbt der Verlag Brandts Roman. Das ist übertrieben. Ein ereignisreicher, sehr ambitionierter, eine kleine Welt in ihrer Gesamtheit abbildender Debütroman ist „Gegen die Welt“ allemal.

Jan Brandt: Gegen die Welt. Roman. Dumont Verlag, Köln 2011. 927 Seiten, 22, 99€.

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