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Jan-Wagner-Gedichtband "Australien": Im Reich der Gegenfüßler

Poetische Weltvermessung: Jan Wagners Gedichtsammlung „Australien“

Schon mit seinen ersten Sammlungen „Probebohrung im Himmel“ (2004) und „Guerickes Sperling“ (2007) machte Jan Wagner durch bestechende Gedichte von sich reden. Mit „Australien“ liefert der Enddreißiger sein Meisterstück. Das schmale Buch in erdrotem Einband schenkt uns nicht weniger als die poetische Vermessung der Welt. Mit den Kapiteln Süden, Westen, Osten und Norden wäre der Globus aufgeteilt, gäbe es da nicht noch einen überzähligen Quadranten, den fünften Erdteil, der das abgekartete Spiel heiter kassiert und entgrenzt: Australien, über das wir mit Pessoas alter ego Álvaro de Campos im Motto lesen: „Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt.“

Das bringt jene Leichtigkeit, die uns willens macht, den Globetrotter auf seinen Streifzügen zu begleiten. Was wird entdeckt? Die fünfte Dimension: die des Poetischen. Sie ist’s, die über Länge, Breite, Höhe und Zeit hinaus zum magischen Wesen von Flora und Fauna vordringt. Sie lässt es nicht beim Scannen, das uns ein präzises Nacktbild vorgaukelt. Sie lotet tiefer, bis ins Mark, wohin das Geheimnis flüchtet, und haust wie in einer Apfelhöhle, dem Panzer der süßen oder bitteren Mandel. Die Kunst des Autors legt es bloß, mit feinen Sonden. Landschaften, auskultiert wie Körper vom Stethoskop des Hausarztes, der sie ab- und aushorcht, die Krankengeschichte vergegenwärtigt, den Symptomen auf die Spur zu kommen.

Aber nicht die Malaise ist Wagners Sache, sondern das Mirakel. Geschult an Ted Hughes und Seamus Heaney, die ihn den animalischen Blick und das Gespür für Menschen in ihrer Landschaft lehrten, konnte er im Haiku seine Fühler für das Große im Kleinen verfeinern. So schnürt er die Wanderstiefel und geht mit Feldstecher und Botanisiertrommel auf Beute. James Cook und Charles Darwin hätten ihre Freude gehabt an diesem hellwachen Träumer und seinem Finderglück. Der sanguinische Archivar verfügt über eine Kraft des Sehens, welche den gewohnten Griff nach unsrer wissenschaftlich taxierten Welt spielerisch übersteigt. An die Stelle des Vermessens tritt wieder das Ermessen, die eigene Enttarnkappe, die Staunenmachendes ans Licht bringt. Zum Beispiel, wenn im Eingangsgedicht „Chamäleon“ der geringelte Greifschwanz zum „bischofsstab“ wird, „während die zunge / als teleskop herausschnellt..., das sternbild / einer libelle frisst.“ Habe ich, selbst ein Tierdeuter, das auch mich faszinierende Urzeitwesen je so gesehen? Nein! Aber ich werde es nun mein Lebtag so sehen, mit seinen „augenkuppeln, mit schuppen gepanzert / eine festung, hinter der / nur die pupille sich bewegt, ein nervöses / flackern hinter der schießscharte“ und wie es „verschwindet langsam zwischen / den farben, sich versteckt in der Welt.“ Versteckte. Jan Wagner hat es seiner Tarnung beraubt. Da haben wir das Frappierende großer Dichtung: die unsern Blick auf die Welt verändert, indem es ihn doppelt und fächert. So geschieht es uns nun mit dem Gecko, dem „wandernden riss“, von dem, durch Ameisen skelettiert, am Ende nichts bleibt als „ein bloßer zahnstocher im breiten maul des august“.

Geschieht es mit dem Mais, seinen „meterhohen, schwankenden gestalten / grinsend, das maul voller goldzähne“, dem schlummernden murmeltier, „sechs monate zusammen / gerollt zu einem fast perfekten kreis“ und dem Schlachter in einem primitiven Hof, mit dem „schillernden vorhang von fliegen, der sich hebt und senkt“. Unvergesslich wie das Heuschreckengedicht und das über die, nach Enzensberger, nochmals entdeckte Flechte. Und die Qualle: „eine lupe, / die den atlantik vergrößert.“ Ja, Zeitlupe und Radiergummi fantasieloser Wahrnehmung. So wird der geborene Hamburger ein würdiger Nachfahr Arthur Rimbauds, des juvenilen Vaters seherischer Entgrenzung.

Das Kinderweltgedicht „wippe“ zeigt ihn, wie er auf den Zuruf, sich schwer zu machen, die Augen schließt, an Zementsäcke und Eisen denkt, Wale und Elefanten, damit ihm Gewicht zuwachse, der Balken sich auf seiner Seite senke, während ein Fasan schreit, Blätter fallen und nichts geschieht. Derweil bleiben seine realen Beine weiter zu kurz, den Grund zu fassen, der Kopf aber schwebt „beinahe in den wolken“. Gibt es in der Musik das absolute Gehör, existiert in der Poesie absolutes Gespür. Jan Wagner besitzt dieses seltene Organ, rätselhafter als die Milz, verborgener als Goethes Zwischenkieferknochen. Bleiben die Jungen des Titelgedichts, die mit ihren Spaten tiefer und tiefer graben und sich ungeduldig fragen, wann endlich sie auf Felsen und Flöze und einen Gegenfüßler auf der anderen Seite der Welt stoßen. Mit ihrer Grabung begann, wofür wir heute diesem großartigen Dichter sehenden Auges stehend danken.













Jan Wagner:

Australien. Gedichte.

Berlin Verlag, Berlin 2010. 102 Seiten, 18 €.

Richard Pietraß

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