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Pulp-Sänger Jarvis Cocker 2011 beim "Melt!"-Festival

© Marc Tirl/picture alliance / dpa

Jarvis Cocker bei Foreign Affairs: Laute, behagliche Nächte

Von Britten bis Mussorgski: Jarvis Cocker erzählt beim "Foreign-Affairs"-Festival Geschichten aus der klassischen Musik.

Von Jörg Wunder

Trotz zeremonieller Beschwernisse hätte es bestimmt Vorteile, im Weißen Haus zu wohnen. Sollte man etwa unter Schlaflosigkeit leiden und einem ausgerechnet das Abspielen von Klavierkonzerten des russischen Komponisten Rachmaninov in ohrenbetäubender Lautstärke Linderung verschaffen, dann gibt es zumindest keine Nachbarn, die sich beschweren. Richard Nixon, von den Protesten gegen den Vietnamkrieg um die Nachtruhe gebracht, fand in den hämmernden Kadenzen Erleichterung. Die Nachwelt erfuhr davon ausgerechnet durch die Watergate-Affäre, die den 37. Präsidenten der Vereinigten Staaten sein Amt kostete.

Die präsidentielle Marotte ist eine der musikalischen Anekdoten, die Jarvis Cocker beim „Foreign Affairs“-Festival im Haus der Berliner Festspiele zum Besten gibt. „Sleepless Nights“ heißt die Veranstaltung, ursprünglich Teil einer Reihe von Radio-Themensendungen für die BBC, hier mit Hilfe des Jungen Sinfonieorchesters Berlin auf die Bühne gebracht. Jarvis Cocker war in den neunziger Jahren ein Popstar der ungewöhnlichen Art, der mit seiner Band Pulp enorme Erfolge feierte, den Britpop-Hype aber mit ironischer Distanz über sich ergehen ließ. An seinem Habitus – Typ zerstreuter Juniorprofessor mit Cordjackett, Hornbrille, zerstrubbelter Scheitelfrisur – hat sich seit 25 Jahren wenig geändert, nur sind Haare und Bart mit 52 naturgemäß grauer geworden. Dass er seine Popkarriere arg vernachlässigt, mag man ihm kaum verdenken, solange er so charmant musikhistorische Schnurren erzählt.

Cocker erzählt von der Entstehung der "Goldberg"-Variationen

Schon der Anfang ist betörend: Der Saal ist in nächtliches Dunkel getaucht, in das hinein Cockers suggestiver Bariton „are you there?“ flüstert, bevor das Orchester vor einer Projektion des aufgehenden Mondes Brittens „Moonlight“ aus der Oper „Peter Grimes“ intoniert.

Das recht junge Publikum wird sanft an die möglichen Interpretationsschichten der Stücke herangeführt. Es erfährt von der Entstehungslegende der Goldberg- Variationen, warum Robert Schumanns Violinkonzert in d-Moll jahrzehntelang mit einem Aufführungsverbot belegt war und ausgerechnet im Berlin der NS-Diktatur Premiere feierte. Oder warum es bei Strawinskys „Le sacre du printemps“ während der Uraufführung in Paris zu handgreiflichen Protesten kam – Cocker kostet in seiner Einführung die nur im Englischen vorhandene phonetische Nähe zwischen den „rites of spring“ und „riots“ aus.

Am Ende singt er Stücke von Muddy Waters und den Doors

Also alles nur leicht bekömmliches Infotainment mit Musikbeispielen für ein mutmaßlich nicht besonders klassikaffines Publikum? Selbst wenn, wäre das nicht verwerflich, ist es doch eine edle, im schulischen oder universitären Kontext häufig zum Scheitern verurteilte Aufgabe, Neueinsteiger für Klassik zu begeistern. Doch die „Sleepless Nights“ sind mehr. Nicht nur, dass die anderthalb Stunden einen schlüssigen dramaturgischen Bogen von Brittens Mondaufgang bis zum Tagesanbruch aus Mussorgskis „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ schlagen und die beeindruckenden Videoprojektionen weitere Assoziationsketten anstoßen; das junge Orchester manövriert unter dem Dirigat von Andreas Schulz auch präzise und beschwingt durch die Stücke, während die beiden Solisten, Victoria Wong an der Geige und Haiou Zhang am Flügel, Erstaunliches leisten – vor allem Zhang beim 1. Satz aus Rachmaninovs 3. Klavierkonzert.

Zum Glück steckt noch so viel Popstar in Jarvis Cocker, dass er sich nicht nur mit der Rolle des sympathischen Musikerklärers begnügen mag. Wenn er mit seiner immer noch wunderbar samtenen Stimme und mit leicht linkischer Motorik durch themenkompatible Songs von Muddy Waters („Black Night“) und The Doors („End Of The Night“) gleitet, verwandeln sich alle nächtlichen Unruhezustände in schnurrige Behaglichkeit.

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