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Jazz: „Ekstase ist alles“

Das Jazzfest Berlin beginnt. Der neue Leiter Bert Noglik über Feeling, Fortschritt und Fusionen. Von sich selbst sagt der 64-Jährige, dass er neugierig geblieben ist.

Herr Noglik, Sie sind der erste künstlerische Leiter des Berliner Jazzfests mit Osthintergrund. Sie haben zwei Drittel Ihres Lebens in der DDR verbracht. Hätte ein Aufwachsen im Westen Ihren Musikgeschmack anders geprägt?

In der DDR war Jazz etwas, das aus der Reihe tanzte und wiederholt kulturpolitische Rangeleien auslöste. Vor allem weil mit dieser Musik ein anderes Lebensgefühl herübergeweht kam, hatte sie für meine Generation eine größere Bedeutung als für jemanden aus dem Westen. Aber weil ich viel Radio gehört habe, gerade Westsender, bin ich mit Jazz eigentlich sehr gut sozialisiert worden. Ich habe mir jede einzelne Sendung herausgepickt, und ich hatte Freunde, die mir Schallplatten schickten.

Und die Liveerfahrungen?

Ein Initialerlebnis war Louis Armstrong, der 1965 durch fünf ostdeutsche Städte tourte, bald darauf auch Moderneres wie Albert Mangelsdorffs Quintett. Und ich bin dem Pianisten Joachim Kühn begegnet – damals das Enfant terrible der ostdeutschen Szene. Kühn wollte mit ungeheurer Kraft in eine neue Musik hinein. Wir sind auch regelmäßig zu Festivals nach Warschau, Debrecen oder Prag gefahren, wo Sonny Rollins oder Miles Davis auftraten.

Gab es keine blinden Flecken?

Einige. Aber um Ellington, Thelonious Monk oder John Coltrane live mitzubekommen, war ich wiederum zu jung. Das hätte ich auch im Westen nicht geschafft.

Sie sind insbesondere mit der frei improvisierenden Ost-Berliner Szene verwachsen, die in den siebziger Jahren entstand.

Ja, ich war derjenige, der darüber zu schreiben anfing. Dadurch, dass viele Musiker aus dem Umkreis des West-Berliner Labels Free Music Production in den Osten kamen, habe ich alles hautnah miterlebt. Im Lauf der Jahre ist mein Horizont ja viel weiter geworden, aber als Teil des großen Ganzen, das wir Jazz nennen, ist diese Szene für mich wichtig geblieben.

Sie haben früh Joachim-Ernst Berendts berühmtes „Jazzbuch“ gelesen, das die Jazzentwicklung in vielleicht allzu sauberen Zehnjahresschritten nachzeichnet. Gibt es für Sie noch Kritiker wie Berendt, der 1964 die damaligen Jazztage begründete?

Es gibt hochklassige Journalisten, mit denen ich mich auch berate, aber verlangen Sie mir bitte keine Namensliste ab, die wäre zwangsläufig unvollständig.

Anders als etwa in der Literaturkritik gibt es kaum noch maßgebliche Figuren, die etwas von der Sache verstehen und eine halbwegs flüssige deutsche Prosa schreiben.

Das hängt auch mit der Pluralität des Jazz zusammen. Zu Berendts Zeiten war die Szene längst nicht so ausdifferenziert. Sie ist ja heute fast unüberschaubar. Wer sich an den Grenzen zur avancierten Elektronik auskennt, tut das nicht unbedingt mit der Fusion von Jazz und Folklore.

Wie verschaffen Sie sich denn inmitten dieser Zersplitterung Überblick?

Wenn es um Festivals geht, rangiert für mich der Kontakt zu Musikern sehr weit vorn. Ich höre genau hin, wen die gut finden und mit wem sie arbeiten wollen. Das zweite sind natürlich Konzerte, das dritte CDs, von denen ich so viele ins Haus geschickt bekomme, dass ich mich durch den Dschungel des Neuen manchmal kaum mehr hindurchkämpfen kann.

Bei YouTube kommen Sie auch eben mal in einen Club nach Brooklyn…

…oder nach Helsinki. In den letzten zwei, drei Jahren ist für mich das Internet immer wichtiger geworden. Selbst bei den einfachsten Videos kriegt man etwas mit von der Auftrittsatmosphäre.

Durch das Netz entsteht eine Sichtbarkeit der Ränder bei zugleich drohendem Kollaps in der Mitte des Markts. Welche Rolle spielen bei der Durchsetzung von Musikern noch die früher so mächtigen Labels?

In Deutschland sind sie nach wie vor eine wichtige Orientierungshilfe. Das mag beim Pop inzwischen anders sein. Aber beim Jazz schaut man schon: Was macht ECM, was macht ACT, was Enja, was Intakt, was die Jazzwerkstatt… Mir würden da auf Anhieb zehn Labels einfallen.

Sie haben 16 Jahre lang, bis 2007, das Leipziger Jazzfest geleitet. Worin besteht für Sie der Unterschied zu Berlin?

Man schaut stärker auf Berlin. Das Jazzfest hat durch seine bald 50 Jahre einen historischen Anspruch mit besonderem Nimbus erworben. Viele Seiten haben viele Erwartungen. Wenn man denen allen entsprechen wollte, würde ein schlechtes Programm herauskommen.

Seit Jahren gibt sich die Konkurrenz Mühe, das Jazzfest von seinem Thron zu stoßen. Die Salzauer Jazz Baltica, das Deutsche Jazzfestival Frankfurt, das Moers Festival oder das Enjoy Jazzfestival.

Ob sie alle einen größeren Namen haben, weiß ich nicht. Sie operieren jedenfalls zum Teil mit größeren finanziellen Ressourcen. Das Jazzfest ist sicher nicht mehr der Leuchtturm. Dadurch lastet auf einem aber auch nicht mehr die alleinige Verantwortung.

Welchen Anteil am Etat hat die ARD?

Etwa ein Fünftel bis ein Viertel. Außerdem beteiligt sich die ARD ja nicht nur finanziell, sondern auch durch Live-Übertragungen und Aufzeichnungen. Sie ist ein deutschlandweiter Multiplikator.

Wie viel Tourneezirkus nehmen Sie in Kauf?

Die Mehrzahl der Musiker habe ich exklusiv eingeladen. Und nachdem es in den letzten Jahren kaum Eigenproduktionen gab, sind es diesmal gleich drei: „Remembering Jutta Hipp“, die Hommage an eine Jazzpianistin, die in den USA ihr Glück suchte. Die deutsche Premiere von Günter Baby Sommers „Songs for Kommeno“, jenem griechischen Dorf, in dem die Wehrmacht 1943 eine Gräueltat verübte. Und das Musik-Film-Projekt „Wanted! Hanns Eisler“. Das deutsch-dänisch-französische Trio Das Kapital nimmt Eislers Kompositionen auseinander und setzt sie mit flammendem Impetus wieder zusammen. Zugleich ist da Nicolas Humberts und Martin Otters Film, der Eislers Zeit reflektiert, aber nicht illustriert. Eisler hat zusammen mit Theodor W. Adorno „Komposition für den Film“ geschrieben, ein Werk, in dem es wesentlich darum geht, eine Ästhetik zu entwickeln, bei der die Musik die Bilder konterkariert.

Nirgends tut sich der Abgrund zwischen einer quicklebendigen Musikerszene mit nachwachsenden Talenten und einem überalterten Publikum weiter auf als beim Jazzfest. Wie wollen sie dem entgegensteuern?

Wenn ich das wüsste, hätte ich längst die deutsche Jazzerziehung übernommen. Im Ernst: Diese Vermittlungsaufgabe kann ein Festival allein nicht lösen. Sie wird nur gelingen, wenn wir die Jungen für den Jazz begeistern, nicht wenn wir uns bei ihnen anbiedern. Es geht nicht darum, ob hier Hip-Hop läuft oder 17-Jährige auf der Bühne stehen. Wenn wir ein Publikum finden, das sich wirklich von Jazz hat infizieren lassen, kommt es auch zum 75-jährigen Archie Shepp.

Wer sich infizieren lässt, der wird oft gleich selber Musiker. Die Karriere des passionierten Hörers ist nicht mehr vorgesehen.

Sie haben recht, wir haben einen enormen Zufluss, ja Überfluss junger Musiker. Dieses Land bildet mehr von ihnen professionell aus, als jemals von ihrer Kunst werden leben können.

Diese Entwicklung gibt es auch in der Klassik – oder unter Studierenden des literarischen Schreibens. Die glücklichsten bilden wiederum die nächste Generation aus.

Ja, das ist eine endlose Schraube. Aber ich bin überzeugt, dass sich die wirklich Hochbegabten durchsetzen.

Jazz lebt mindestens so sehr von Persönlichkeiten und ihren Energien wie von Stilen. An ersteren herrscht kein Mangel. Wie sieht es mit dem zweiten aus? Hören Sie einen Unterschied zwischen dem Jazz von 1992, der sich auch schon an allen Arten postmoderner Zitierkombinatorik versuchte, und dem des Jahres 2012?

Ja, durch die ständig wachsende Hybridisierung, die Sie andeuten. Immer wieder entstehen neue Fusionen. Und auch aus der wunderbaren Geschichte des Jazz wird immer wieder Neues geschöpft.

Worin liegt für Sie dann die Gegenwärtigkeit des jüngsten Jazz?

Das hat mit Soundvorstellungen zu tun. Ich denke etwa an den jungen norwegischen Tenorsaxofonisten Marius Neset, der nun im Quasimodo auftritt. Er kommt aus einer Tradition mit John Coltrane als Übervater. Aber er klingt definitiv anders als die Coltrane-Adepten vor zehn, 15 Jahren. Da ist vieles eingeflossen, was in der Zeit am Klingen ist: Popmusik, E-Musik, Werbejingles. Jazz hat ein Feeling, das all das schneller aufsaugen kann als die komponierte Neue Musik. Im Fluss der Zeit verändert sich durchaus etwas.

Nur die völlig frei improvisierende Szene kommt nicht vom Fleck.

Ja, da sind die Fortschritte langsamer zu messen.

Ist Fortschritt für Sie denn ein Kriterium?

Ich glaube nicht, dass zeitgenössische Musik immer für Fortschritt stehen muss. Das verlangen wir ja von anderen Künsten auch nicht. Gerade im Jazz gibt es eine Qualität des Hier und Jetzt, des Ekstatischen im Moment des Musizierens, eine Aura von Zeitlosigkeit.

Sie sind jetzt 64 Jahre alt: Wie viel musikalischen Weitblick und wie viel Rückzug auf die eigenen Prägungen bringt das mit sich?

Ich glaube, dass ich neugierig geblieben bin. Auch bei Dingen, die überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge liegen. Ich sage nie: Gibt’s nicht. Kenne ich nicht. Sondern ich versuche dahinter zu kommen, was da passiert. Man braucht seine Prägungen zur Orientierung. Aber man muss flexible Maßstäbe behalten.

Berlin ist eine Jazzstadt, in der sich die Fülle der Musiker brutal auf die Füße tritt. Könnte man nicht beschließen: Lasst die internationalen Größen ziehen und überlasst das Geld der einheimischen Szene?

Die Förderung dieser Szene ist wichtig, aber ihr das Budget des Jazzfests zukommen zu lassen, wäre ein reines Gießkannenprinzip. Das Jazzfest muss darstellen, was über die Stadt hinaus Bedeutung hat. Es ist schon ganz gut, mal das Fenster zum Internationalen zu öffnen.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

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