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Temperamnet für zwei. Die Dänin Caecilie Norby.

© ACT/Isak Hoffmeyer

Jazz: Familienbande im Radialsystem

Theoretisch ist der zeitgenössische Jazz ein Reservoir von Sprachen, in denen jeder mit jedem spontan kommunizieren kann. Doch das unterschätzt die Fremdheiten, die sich auftun können. "Magic Women": eine Jazznacht mit Caecilie Norby und Céline Bonacina im Berliner Radialsystem.

Von Gregor Dotzauer

Die Musiker eines Plattenlabels als Großfamilie zu betrachten, hat Charme – zumal wenn man wie Siggi Loch, der Chef der Münchner Jazzfirma ACT, als gütiger Vater in die Runde blickt. Vielleicht hat es auch seine Tücken, weil gerade bei so vielen kaum noch überschaubaren Köpfen auf jedes Grad Nestwärme ein Grad eisiger Konkurrenz kommen kann. Man kennt das von normalen Familien. Aber in immer wieder neuen Konstellationen den harten Kern mit den Nichten und Neffen und neuem Nachwuchs zusammenzubringen, eröffnet manchmal erstaunliche Verbindungen. Nichts anderes ist die Idee der ACT Jazz Nights.

Was in der Münchner Unterfahrt schon Tradition hat, soll nun auch im Berliner Radialsystem zur Institution werden. Nicht mehr Club, noch nicht klassischer Konzertsaal – das macht den Reiz dieses Ortes aus. Seine schiere Größe bürgt dafür, dass es sich eines Tages auch ökonomisch auszahlen kann, Begegnungen zwischen Musikern zu organisieren, die sich allein nicht finden würden.

Theoretisch ist der zeitgenössische Jazz ein Reservoir von Sprachen, in denen jeder mit jedem spontan kommunizieren kann. Doch das unterschätzt die Fremdheiten, die sich auftun können. Nicht weil die französische Baritonsaxofonistin Céline Bonacina, der deutsche Pianist Michael Wollny und der schwedische Bassist und Cellist Lars Danielsson, die in der ersten Hälfte des „Magic Women“-Abends auf die Bühne kamen, nicht in allen möglichen Idiomen versiert wären, sondern weil das Energiegefälle so auffällig war.

In vordigitalen Zeiten, als das Loopen noch nicht erfunden war, hätten sie einfach auf Gedeih und Verderb miteinander spielen müssen: die fragile Frau mit dem phallischen Mordstrumm, dessen charakteristische Extraschleife hinter dem Mundstück Adolphe Sax nur einbaute, um das Instrument nicht noch weiter in die Länge zu ziehen. Der Abstraktion und Klanginnigkeit wie kein Zweiter seiner Generation verbindende Mann am Flügel und dem wah-wah-vernebelten Rhodes. Und der Großmelodiker, der seinen tiefen Tönen gerne ein leichtes Synthieschimmern aufsetzt. So beschäftigten sie sich erst einmal mit sich selbst und den vor ihnen liegenden Gerätschaften, türmten Riff auf Riff und turnten über die so entstandenen Teppiche solistisch hinweg: eine Art musikalischer Gymnastik mit Hang zum Autismus, der allein Michael Wollny entkam. Bonacina mühte sich schüchtern, den weitgehend improvisierten Stücken mit hechelndem Atem und funkig knatternden Anblasgeräuschen Leben einzuhauchen, besaß aber bei aller Geläufigkeit nicht annähernd so viel Präsenz wie ihre Mitstreiter. Den einlullenden Rest besorgte das gleichfalls aus den Loop-Ostinati geborene harmonische Einerlei. Ähnliche Klanglandschaften kann mit billigen Apps inzwischen jeder noch so unmusikalische Smartphone-Besitzer herstellen.

Die Erlösung nach der Pause. Gerade noch rechtzeitig war die Sängerin Caecilie Norby aus ihrem Kopenhagener Flugzeug auf die Bühne gefallen und richtete sich zusammen mit ihrem langjährigen Begleiter Danielsson zunächst im Duo an Stücken auf, die von Minute zu Minute ihr Temperament mehr aufglühen ließen. Wo bei Joni Mitchells „Both Sides Now“ und Ravels mit eigenem Text versehener „Pavane pour une infante défunte“ noch die Melancholie regierte, da fegte bei den „Women of Santiago“ und Abbey Lincolns „Wholly Earth“ schon eine Lebenslust vorbei, die auch der mittlerweile eingestiegene Wollny mit groovenden Soli krönte. Die meisten Songs sind auch auf ihrer CD „Arabesque“ zu hören sind, die im Januar bei ACT erscheint – eine Auswahl von Stücken, die auch auf die Musik zurückgeht, die sie als Tochter einer Opernsängerin und eines klassischen Komponisten als Kind zu hören bekam – von Puccini bis Satie.

Caecilie Norbys größte Stärke liegt wohl in der stimmlichen Bandbreite, die ihr zur Verfügung steht. Ob kerniger Popsong, federleichtes Scatten, edle Vokalise oder tremolierendes Pathos – binnen Sekunden springt sie von einer Welt in die nächste. Darauf, mit Leonard Cohen, ein abschließendes „Hallelujah“.

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