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Klangerfinder. Der indo-amerikanische Musiker Vijay Iver.

© Jimmy Katz

Jazz: Fühle die Resonanz

Dissonanzen und ein zarter Strich, Swing und indisch Inspiriertes: Der gefeierte New Yorker Jazzpianist Vijay Iyer legt sein erstes Soloalbum vor. Eine Begegnung.

Es hilft, wenn man die richtigen Vorbilder hat. Wenn man sich etwa als Jazzpianist für Duke Ellington begeistert und für Thelonious Monk. Sie führen auf einen richtigen Pfad. Man muss nur den Sinn dafür entwickeln. Vijay Iyer, der 38 Jahre alte New Yorker, dessen Ruf als famoser Pianist, Klanggestalter und konzeptionell denkender Bandspieler in den letzten Jahren unaufhaltsam aus den Insiderzirkeln in die breitere Jazzöffentlichkeit drängte und der jetzt sein Album „solo“ vorlegt, stellt den beiden Jazz-Titanen mit Andrew Hill noch einen dritten zur Seite. „Alle drei haben eine körperliche Beziehung zu ihrem Instrument“, beschreibt er seine Faszination für die drei musikalischen Vorfahren.

„Es geht dabei nicht nur darum, wie der Körper auf den Klang des Klaviers reagiert, sondern auch darum, das Instrument auf eine ganz bestimmte Art nachklingen zu lassen, damit alle Resonanzen zu spüren sind.“ Denn: „Um die höheren Obertöne zum Klingen zu bringen, musst du tief in die Tasten greifen.“ Damit rückt Iyer den Sound ins Zentrum und lässt all die aufgeregten Jazz-Debatten über das eine, rechte Verhältnis zwischen Tradition und Innovation elegant links liegen.

In der aktuellen Jazzszene ist der Sohn indischer Einwanderer in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. „Indo-Amerikaner sind etwas Neues“, umschreibt er seine Position. Eine Änderung der Immigrationsbestimmungen in den sechziger Jahren hatte die Türen für Migranten aus Indien und anderen südasiatischen Ländern geöffnet, was zu einer massiven Einwanderungswelle führte. Die Kinder dieser Einwanderer schließlich mussten ihre Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen der Fremdheit, die ihre Eltern empfanden, und der eigenen Vertrautheit, zwischen den verschiedenen Sprachen und kulturellen Gepflogenheiten entwickeln.

„Meine Identität ist ein Hybrid“, sagt Iyer nachdenklich. „Es geht mir nicht um die Begegnung von Indien und Amerika, von Ost und West, das wäre viel zu simpel. Ich bin von Anfang an beides zugleich. Und keins von beiden.“ Schon deshalb ist die musikalische Partnerschaft mit dem Saxofonisten Rudresh Mahanthappa, der wie er als Kind indischer Einwanderer in den USA aufwuchs, seit 15 Jahren essenziell für Iyer. Und möglicherweise hängt selbst seine Liebe für den Jazz damit zusammen, dass es sich auch dabei um eine künstlerische Ausdrucksform hybrider Identitäten handelt.

Mit drei Jahren erhielt Vijay Iyer seinen ersten Musikunterricht: Geige, klassisch westlich, mit allem Drum und Dran. Daneben hörte er indische Musik, die Popmusik der Zeit, viel später erst Jazz. Doch während er diszipliniert die klassische Tongebung und erste Stückchen auf der Violine übte, spielte er zu Hause auf dem Klavier seiner ein paar Jahre älteren Schwester einfach herum, nur aus Spaß, übte sich in der Kunst der Improvisation, lange bevor er wusste, dass es so etwas gibt. Später spielte er in Rockbands und im Jazzensemble seiner Highschool und genoss das Gemeinschaftserlebnis. Gemeinsam spielen, gemeinsam Grenzen ausloten und Erfahrungen sammeln, das ist bis heute ein wichtiger Motivationsfaktor für Iyer geblieben.

Doch als Pianist sah er sich zunächst nicht. Zu stark waren andere Interessen und Talente: In Yale studierte er Mathematik und Physik, in Berkeley promovierte er schließlich mit einer interdisziplinären Arbeit über das Verhältnis von Körper, Geist und Musik in afrikanischer und afroamerikanischer Musik.

Nach und nach wurde das Umfeld, in dem sich Vijay Iyer als Musiker bewegte, professioneller, wurden seine Partner immer profilierter. Iyer zog nach New York, und spätestens dort entwickelte sein Spiel an der Seite von Musikern wie Steve Coleman, Roscoe Mitchell oder John Zorn Schärfe und Präzision. Die formale Jazzausbildung umdribbelte er dagegen mit gehörigem Sicherheitsabstand und dem Wissen, dass auch seine Idole ihre Kunst nicht an der Musikhochschule erlernt haben. „Diese Typen haben nicht am Computer gesessen und Musik analysiert. Sie haben ihren Stil am Klavier entwickelt, sie spielten mit dem Instrument, indem sie nachspürten, was es ihnen geben kann. So haben sie ihre Wahrheiten gefunden.“

Mit seinem Album „solo“ kehrt Iyer, der in diesem Jahr bereits den Deutschen Jazz Echo und den Jazz Journalists Association Award gewann, als Star der Szene zum unschuldigen Ausgangspunkt am Klavier zurück. Mit Michael Jacksons „Human Nature“ als Opener verweist er auf die Popmusik, mit der er groß geworden ist. Mit einigen Standards und einem abschließenden Blues erzählt er seine Geschichte des Jazz vom Stridepiano eines Duke Ellington über den Swing von Thelonious Monk, von der Raffinesse Andrew Hills bis zur Energie des Sternenreisenden Sun Ra.

Der Rest ist reiner Iyer, vielschichtig und abwechslungsreich zwischen Einfühlung und Abstraktion, zwischen Dissonanzendonner und dem zarten Strich, der eine Harmonie veredelt. Und wer genau hinhört oder die verschachtelten Rhythmen mitzählt, kann bemerken, wie indisch inspirierte Muster dem vertrauten Spiel des Swing in der Tiefe eine eigenartige Spannung verleihen. Iyer fühlt sich offenkundig wohl in dieser Situation, elegant wechselt er die Perspektiven, erfüllt die stilistischen Vorgaben der Kompositionen, zieht ganz leise zusätzliche Ebenen und Fallstricke ein, zerlegt melodische Gebilde in ihre Bausteine und montiert sie wiederum in ungeahnten Konstellationen. Forschung? Montage? Interpretation? Nur eine Frage des Gleichgewichts. Die großen Vorbilder haben es auf ihre Art nicht anders gemacht.

Das Album „solo“ ist bei Act erschienen.

Stephan Hentz

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