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Musik mit computergenerierten Lochstreifen. Pierre Charial.

© Ali Ghandtschi/Jazzfest

Jazzfest Berlin: Jaulet, frohlocket!

Leierkastenkünstler und Naturstimmwunder: Impressionen vom Berliner Jazzfest - von den Drehorgel-Orgien des Pierre Charial bis zu den Bigband-Gags um die Sängerin Monika Roscher.

Von Gregor Dotzauer

Orgue de barbarie heißt die gute alte Drehorgel auf Französisch. Doch barbarisch ist an ihr allenfalls das Fußgängerzonenelend und Jahrmarktsgetümmel, in dem sie ihr mechanisches Lied für gewöhnlich anstimmt. Sie hat eher etwas kläglich Gequetschtes und Asthmatisches – wenn man nicht Pierre Charial heißt und über ein Instrument mit einem Tonumfang von dreieinhalb Oktaven, 156 Pfeifen und drei Registern gebietet.

Was André Odin für ihn gebaut hat, besitzt immer noch das Talent zum Verdrucksten und Komischen, im Tutti aber auch etwas Exzentrisches und Hysterisches, das geradewegs auf das Majestätische zusteuert – immer mit einem Augenzwinkern. So setzt der Bassklarinettist Michael Riessler Charials Drehorgel in seiner Gruppe Big Circle auch ein – als lochstreifengefüttertes Untier, das japst und stottert und aufheult, sich an den eigenen Äußerungen verschluckt und dann wieder Klangschicht auf Klangschicht zu einer Toccata von Messiaen’schen Ausmaßen auftürmt. Sobald dann noch Drummer Robby Ameen, Elektrobassist Manuel Orza und das sechsköpfige Bläserensemble einfallen, entstehen halsbrecherische Ostinati mit verschachtelten Grooves, die immer wieder in abrupte Brüche münden.

Riessler und Charial, der seine musique mécanique in Bewunderung für Conlon Nancarrows automatisierte „Studies for Player Piano“ entwickelte, bewegen sich in einem Grenzland zwischen Jazz und Neuer Musik. Es könnte das lebendigste sein, das man im 21. Jahrhundert bewohnt. Aber das Jazzpublikum dürfte sich von der tiefenwirksamen Körperlichkeit dieser Stücke, die letztes Jahr mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurden, durch einen angestrengten Aktionismus abgehalten fühlen. Und Besucher der Donaueschinger Musiktage, wo die beiden schon spielten, dürften die kompositorische Einheit vermissen. Denn der Fantasie des kammermusikalischen Kerns in den Solo- und Duopassagen korrespondiert eine Konventionalität der orchestralen Verarbeitung, die kaum über das Modell der swingenden Bläsereinwürfe in den Bigbands von Count Basie hinausgeht – nur eben mit Mut zum Atonalen.

Auch die 18-köpfige Bigband der jungen, ungewöhnlich theatralisch aufgelegten Münchner Gitarristin und Sängerin Monika Roscher ist da keinen Schritt weiter. Munter – und zugegeben: charmant – collagiert sie zeitgenössische Stile. Mit einer gelben Blume im Haar jagt sie durch Heavy-Metal-Passagen, mimt einen wütenden Gorilla und durchtänzelt verwunschenes Gelände, als hätte Danny Elfman einen weiteren Soundtrack für Tim Burton geschrieben. Gesanglich klingt das, zumal da, wo es durch den Vocoder geschickt wird, wie bei Laurie Anderson, und wenn man ihre aufgekratzte Naturstimme hört, ein wenig wie bei Björk. Bei dieser Kombinationsästhetik bleibt es. Prothese statt Synthese, könnte das Motto heißen: immer noch eins draufgeschraubt, und wenn nichts mehr geht, hilft vielleicht ein Gag. Aber auch da liegt die Latte hoch, wenn man an eine Spaßtruppe wie Spike Jones und seine City Slickers denkt. Als Beitrag zum Stand der zeitgenössischen Bigband hat das bei aller Sympathie für die Spiellust der jungen Musiker auf der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele nichts verloren.

Zum Kehraus mit der Neuauflage von John Scofields Überjam elementarer Groove Jazz irgendwo zwischen Blues und Funk, allerdings in einer Stratosphäre, wo technisch kaum noch jemand mithält. Scofield ist noch immer ein fulminanter Gitarrist, der die kurze verzerrte Rockphrase ebenso beherrscht wie das minutenlang perlende Legato. Aber wo er noch so etwas wie Seele hat, da lassen seine drei Mitmusiker die Musik in unendlicher Bedeutungslosigkeit versinken – allen voran Drummer Louis Cato, der Saft und Kraft des Genres in virtuoser Überschallgeschwindigkeit vernichtet.

Wie anders die 71-jährige Schlagzeuglegende Jack DeJohnette. Zusammen mit dem Klarinettisten Don Byron, Keyboarder George Colligan und dem Bassisten Jerome Harris entsteht schon durch die dynamischen Möglichkeiten zwischen zartester Hand und gut hingelangt eine überraschende Weite. Es war dies – nach dem phänomenalen Auftakt mit Christian Scott – sicher kein besonders inspiriertes Konzert, aber eines, in dem jeder jederzeit über seine Mittel verfügte. Gregor Dotzauer

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