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Jazzfest: Puls und Blues

Das Berliner Jazzfest ehrt die fast vergessene Pianistin Jutta Hipp. Angeblich spürte sie ihre Plattenfirma Blue Note erst ein Jahr vor ihrem Tod 2003 auf, um ihr die Tantiemen zu überreichen, die sie seit ihrer letzten Aufnahme mit Zoot Sims 1956 angesammelt hatte.

Von Gregor Dotzauer

Über 30 Jahre lang war sie in den Augen der Öffentlichkeit nicht einmal eine untergegangene Hoffnung. Aus der New Yorker Jazzszene, in die sie sich 1955 auf Einladung von Leonard Feather begeben hatte, war die Leipziger Pianistin Jutta Hipp schon drei Jahre später in die musikalische Unsichtbarkeit abgetaucht. Zu Hause im Swing, gedrängt zum Cool Jazz von Lennie Tristano und schließlich entflammt für Horace Silvers satten Groove, rettete sie sich mit Mitte 20 vor ihrem Lampenfieber und dem Alkohol in ein Leben als Fabriknäherin auf Long Island und ging daheim in Queens ihrem Talent als Malerin und Zeichnerin nach. Angeblich spürte sie ihre Plattenfirma Blue Note erst ein Jahr vor ihrem Tod 2003 auf, um ihr die Tantiemen zu überreichen, die sie seit ihrer letzten Aufnahme mit Zoot Sims 1956 angesammelt hatte.

Ob sie sich selbst erkennen könnte in der Legende vom rothaarigen Engel mit gebrochenen Flügeln, die sich neuerdings um sie gebildet hat? Und was sie in der zeitgenössisch anverwandelten Musik hören würde, die ihr ein deutsch-amerikanisches Quintett zum Auftakt des Berliner Jazzfests widmete? „Remembering Jutta Hipp“, eine Idee des neuen Leiters Bert Noglik, jonglierte zwar mit einigen ihrer elegant synkopierten Themen. Aber was da zwischen Julia Hülsmanns Flügel, Joe Lovanos Tenorsaxofon und Rolf Kühns Klarinette, befeuert von Christian Lillingers hyperaktivem Schlagzeug und Greg Cohens Bass, zunächst wie zum Mitschnippen durchs Haus der Berliner Festspiele flog, wurde gleich wieder abgefangen, zermahlen und einem metrisch ungebändigten Puls untergeordnet. Eine würdige Hommage, die ihre Rechtfertigung nicht zuletzt in der Person des 83-jährigen Rolf Kühn fand, der auch mehrere Metamorphosen zu freieren Formen durchlief: Ihn hatte sie 1947 in Leipzig mit Benny Goodmans Musik bekannt gemacht.

Der Preis solcher Konzeptformationen scheint selbst nach ausreichender Probezeit allerdings eine gewisse Vorsicht beim Manövrieren durch die Partituren zu sein. Das sehr viel kraftvollere Konzert war deshalb dasjenige der Pianistin Geri Allen mit Kenny Davis am Bass und Drummer Kassa Overall, der auch als Rapper auftritt. Ein traumhaft eingespieltes Trio, das jeden Akzent des Repertoires zwischen Charlie Parker, Thelonious Monk und Eigenkompositionen der Chefin schon tausend Mal gesetzt hat – und durch die eigene Routine befreit, darum herumnavigieren kann. Keine Sprache zwischen altem Blues und modernen Quartgebirgen ist Geri Allen fremd. Insofern war der genialisch polyglotte Joe Lovano als zeitweilig Vierter im Bunde, zu dem sonst der Steptänzer Maurice Chestnut gehört, ein logischer Ersatz. Hurrikan Sandy hatte Chestnut an der Anreise gehindert. Gregor Dotzauer

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