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Kultur: Jean Baudrillard: Partisanen der Moral

Wer sich wie die Berliner Schaubühne zum Auftakt einer Gesprächsreihe Jean Baudrillard einlädt, beweist ein Urvertrauen in die Macht der Debatte. Denn der französische Philosoph, der mit den Begriffen Simulation und Virtualität in den 80er Jahren bekannt wurde, ist ein Partisane des Sinns.

Wer sich wie die Berliner Schaubühne zum Auftakt einer Gesprächsreihe Jean Baudrillard einlädt, beweist ein Urvertrauen in die Macht der Debatte. Denn der französische Philosoph, der mit den Begriffen Simulation und Virtualität in den 80er Jahren bekannt wurde, ist ein Partisane des Sinns. Das erschwert die Verständigung mitunter ein wenig.

Keine leichte Kost war schon das Gentechnikkapitel aus dem neuen Buch "Der unmögliche Tausch" (Merve Verlag, 28 Mark), das Baudrillard am Sonntagmorgen im überfüllten Saal vortrug. Das Klonen des Menschen verspreche im Namen der Menschenrechte Unsterblichkeit, bedrohe aber die ganze Gattung. Denn es simuliere das Leben bloß, dessen unhintergehbare Eigenschaft in einem Wechselspiel zwischen Humanem und Inhumanem bestehe.

Der Hinweis auf das Inhumane zeigt: Baudrillard ist nicht der richtige Mann für Ethikkommissionen. Dabei hatte er ein noch am ehesten mehrheitsfähiges Kapitel gelesen. Ausgespart blieben neben ziemlich dunklen die ziemlich klaren und unangenehmen Ausführungen über die Ehre des Opfertodes, die niemand mehr dem servil emanzipierten Sklaven seiner selbst (vulgo: dem Menschen von heute) zuteil werden lasse. Weshalb er ersatzweise selbst mit seinem Leben zu spielen beginne, etwa in der Gentechnik.

Der Nietzscheaner, Ästhetizist und Pathetiker des Blutes, der Baudrillard neben dem Zeitdiagnostiker eben auch ist, wurde bei der Diskussion kaum angesprochen. Thomas Ostermeier (Schaubühne), Jakob Augstein (von der kooperierenden "Süddeutschen Zeitung") und Matthias Greffrath wichen der Janusköpfigkeit des Mannes aus, der gegen das totalitäre Einheitsstreben des Systems das "Andere", das Nichts, den Tod anruft. Augstein sorgte sich vielmehr um die Verfassung des Philosophen und fragte ihn, ob er ein trauriger Mensch sei.

So leicht ließ sich der Theoretiker der Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Simulation nicht dingfest machen. Er schraubte sich in den nächsten anderthalb Stunden zunehmend in sein begriffliches System. Mit konzilianter Selbstreferentialität antwortete Baudrillard auf jeden Versuch, ihm Handlungsanweisungen zum Widerstand zu entlocken. Nur Augstein hatte sich früh abgemeldet, indem er den Philosophen der Science Fiction zieh. Da mochte sich einer von der Apokalypse nicht den Spaß am Leben nehmen lassen.

Theorie als Sterbehilfe

Greffrath dagegen zog die Sakkoärmel hoch und vermisste den Klassenkampf bei Baudrillard. Dass die totale Rationalisierung auch das Denken vom Zweck befreie, klinge nach einer "Verelendungstheorie des Imaginären", und das Lob des unscheinbaren Details sei doch wohl "Theorie als Sterbehilfe" für ältere Herren. Baudrillard sprach erst ungerührt freundlich von den immer vorhandenen Paralleluniversen, dem Anwesenden und dem Abwesenden, bevor er seiner Hoffnung Ausdruck gab, individuelles Handeln möge die Wirklichkeit verändern.

Diese habe Baudrillard doch als Simulation bezeichnet, wunderte sich Hausherr Ostermeier. Darauf konzedierte der Philosoph staunenswerterweise, dass im Mikrokosmos - anders als im regellosen Makrokosmos - Werte gälten, und dort verhalte man sich zu Menschen. Über die Beziehungen beider Sphären hätte man gern mehr gehört. Sollte Baudrillard ein virtueller Kommunitarist sein?

Doch zu weiteren Unterscheidungen kam es nicht; zunehmend prägte die Baudrillardsche Ununterscheidbarkeit die Runde. "Kalte Heimat", kündigte Greffrath an, sei das Thema der nächsten Veranstaltung mit Slavoj Zizek. "Kalte Freiheit", korrigierte Ostermeier. Ist ja auch einerlei. Frei fluktuierende Zeichen machen jedwedes Gespräch irgendwie kostbarer.

Jörg Plath

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