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Jean-Henri Fabres „Souvenirs entomologiques“: Hut ab vor dem Krabbeltier

Fabelhafte Insekten: Jean-Henri Fabres entomologische Erinnerungen

Woher kommt eigentlich das Vorurteil, die Dichter stünden mit den Naturwissenschaften auf Kriegsfuß – und die Wissenschaftler mit der Dichtung? Goethe, Novalis oder Jünger sind ausgewiesene Naturforscher; auch unter Naturwissenschaftlern gibt es dichterische Begabungen – denken wir an Georg Forsters Schilderung von Cooks Weltumsegelung, an Humboldts Entdeckungsreisen, an die Vögel- und Säugetierbeschreibungen der Brehms. Was Brehm senior für die Vogelwelt leistete, das tat in der Käferkunde noch umfassender, exakter Jean-Henri Fabre mit seinen entomologischen Erinnerungen. Zwischen 1879 und 1907 entstanden Fabres „Souvenirs entomologiques“, ganze zehn Bände, die jetzt sukzessive beim Berliner Verlag Matthes & Seitz in der Übersetzung des Pfarrers und Hobby-Entomologen Friedrich Koch erscheinen.

Jean-Henri Fabre, der 1823 als Sohn eines Bauern in einem kleinen Örtchen im französischen Zentralmassiv geboren wurde, ist ein mikroskopisch genauer Beobachter und stupender Fabulierkünstler zugleich. Seine Verhaltensstudien von Käfern, Wespen oder Libellen sind mitunter ausgefeilte Erzählungen – oder realistische Versuchsreihen mit fantastischen Vorgängen. Die Insekten erscheinen in ihrem Tun wie Wesen mit menschlichem Intellekt. Keine Angst: Fabre ist weder ein Äsop noch Lafontaine. Seine Tiere sind keine Fabelwesen. In seinen Beschreibungen voll „zarter Empirie“ (Goethe) lässt er ihnen stets das tierisch Besondere. Immer wieder aber entsteht beim Lesen dieses bunten Käfer- und Bienenlebens der Verdacht, dass wir Menschen in Wirklichkeit einfallslose Tölpel sind im Vergleich mit dem, was sich die winzigen Kriecher in puncto Nahrungssuche, Nestbau oder Kinderaufzucht einfallen lassen. Der in Südfrankreich tätige Fabre wurde nicht nur in seiner Heimat massiv verehrt, von Gide, Valéry oder den Surrealisten, sondern auch anderswo. Ernst Jünger hat für seine „Subtilen Jagden“ ausgiebig von Fabres Vorbild profitiert; unter den deutschen Dichtern der Gegenwart haben sich Michael Krüger, Christoph Meckel und Paulus Böhmer zu ihm bekannt. Warum zählen sie Fabre zu einem der ihren? Ist es die bei aller Exaktheit so überwältigend schlicht wirkende Beschreibungskunst? Oder ist es die Hingabe ans bewegte Subjekt, der obsessive Blick auf alles, was für andere „nur kriecht“, die Mischung aus Liebe und Neugier, die der Poesie nahesteht? Bei Fabre regt, rollt, häutet und verpuppt es sich unentwegt, so dass man als Leser meint, einen Film zu sehen – Fabre ist der Heinz Sielmann mit Bleistift, Lupe und Terrarium. Hätte er eine Generation später den Filmpionier Georges Méliès engagiert, wäre sein Insektenleben vielleicht als handkolorierter Trickfilm herausgekommen.

Eines ist sicher: Nach der Lektüre stolpert keiner mehr völlig acht- und ahnungslos durch Wald und Flur. Mancher mag sich beim Anblick zweier Mistkäfer seiner Sätze erinnern und sich freuen, dank Fabre einen Blick dafür bekommen zu haben. Und wie viel ist seitdem nicht nur rar geworden, sondern verschwunden? Mit viel Einfühlungsvermögen porträtiert Fabre seine Gelbgeflügelte Grabwespe, seine Kreisel-, Sand-, und Knotenwespen. Aber gibt es sie überhaupt noch?

Auch die empirische Wissenschaft, wusste der Positivist Fabre, ist eine Frage der Qualität des Hinschauens, nicht der Quantität bloßen Erfassens. Was einer angeschaut und erkannt hat, ohne es dabei seines Wesens beraubt zu haben, respektiert er künftig auch: Fabre, der gläubige Biologe, war davon überzeugt, dass seine Käferfauna einen zentralen Platz in der Schöpfung einnahm. Er verklärte nicht, was er unter der Lupe sah – die Mischung aus instinktmäßiger Klugheit, Brutalität und Fürsorge frappierte Fabre bei seinen gepanzerten Lieblingen stets aufs Neue. Gleichzeitig machten ihn seine Beobachtungen demütig und weise, so dass er sich fragte: Ist der Mensch so viel besser? Ist das, was er sieht, denn nicht ebenso Beobachtung an sich selbst und an uns, seinen Lesern?

Fabre, der Anthropologe des Insektenreichs. Er unterstellt den obskuren Objekten im Gras nichts, was nicht auch wir uns vorzustellen vermögen. Schließlich hatten wir alle eine Krabbelphase, lieben wir es, im Sommer durchs Gras zu streifen oder frische Salatblätter zu vertilgen. Jean-Henri Fabre bringt es auf den Punkt: Wir sollten uns ganz tief vor dem Mistkäfer verneigen. Entwicklungsgeschichtlich hat er ein paar Millionen Jahre mehr als wir auf seinem schwarz gepanzerten Buckel.

Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers II. Aus dem Französischen von Friedrich Koch. Matthes & Seitz, Berlin 2010. 335 Seiten, 36,90 €.

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