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Drin oder nicht drin. Es ist der für Fußballfans weltweit entscheidende, sinnstiftende Moment.

© IMAGO

Jean-Philippe Toussaint schreibt über Fußball: Tor, Triumph und kleiner Tod

Einst schrieb Hemingway über den Stierkampf. So poetisch eigensinnig schreibt heute Jean-Philippe Toussaint über Fußball.

Es ist ein sonderbar suggestives Bild. In braunrötlichem Licht sitzt eine asiatische junge Frau an einem Restauranttisch, vor sich Teller mit Stäbchen, Reste einer Mahlzeit, Gläser, eine Getränkedose, ein zusammengeklapptes Handy. Die junge Frau ist offenbar in angeregtem Gespräch mit ihrem Gegenüber, hat sich dabei leicht vorgebeugt, wirkt neugierig und konzentriert zugleich, doch zeigt das angeschnittene Foto nicht die andere Person, vielleicht ist es ihr Freund oder Geliebter. Die dunklen Haare des Mädchens verlieren sich halb im schwarzen Hintergrund, zugleich ragt ihr Kopf auch noch hinein in ein größeres, helleres Fenster zur Außenwelt – und dieses Fenster ist eine offenbar fast raumhohe Leinwand mit der Projektion einer Fußballübertragung im Fernsehen.

Auf dieser gleichfalls nur angeschnittenen Hintergrundfläche sehen wir ein vollbesetztes Stadion, den gegen das rötliche Restaurantlicht gesetzten grünen Rasen, ein paar winzige Spieler, einige erinnern in ihren schlierig schwarz-weißen Trikots an die deutsche Nationalmannschaft, doch können wir die in der Ecke eingeblendete asiatische Schrift nicht lesen, nur die Zahlen, es läuft die 35. Minute und die 25. Sekunde, Spielstand 0:1.

Das Bild ist so suggestiv durch den Kontrast zwischen Hinter- und Vordergrund (die vom Spiel in ihrem Rücken unberührte junge Frau). Eine private Szene und ein Massenspektakel wie zwei nicht kommunizierende, gleichwohl verbundene Welten: Platos moderne Höhle.

Es ist das Coverfoto von Jean-Philippe Toussaints neuem Buch „Fußball“, und der in Brüssel und auf Korsika lebende belgische Schriftsteller hat es während der in Südkorea und Japan stattgehabten Weltmeisterschaft 2002 aufgenommen. Auf der letzten Seite des Buchs verrät dann das Impressum: „Dans un bar à Kyoto“, in einer Bar im japanischen Kyoto, am 21. Juni 2002 („Match Allemagne-Ètats-Unis“).

Die Szene könnte auch aus einem der meist nicht sehr dicken, eher novellenartigen Romane von Jean-Philippe Toussaint stammen. In ihnen bleibt oft vieles in der Schwebe, selbst im Tageslicht ist die Dämmerung nah, das Zwielicht, und das erotische Begehren von Paaren schlägt leicht um in ein nie ganz zu enträtselndes Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, Hitze und Kühle. Natur und Künstlichkeit sind dabei zivilisatorisch wie individualgeschichtlich kaum mehr zu trennen. In seiner bislang letzten, 2014 auf Deutsch erschienenen Erzählung „Nackt“ lässt Toussaint etwa eine Modeschöpferin ihre Kollektion in Japan von völlig nackten, mit Honig übergossenen Models vorführen, denen ein Bienenschwarm als lebender Schleier folgen soll.

"Dieses Buch wird niemandem gefallen", warnt der Autor

Toussaint, für den die Begegnung mit Beckett sein künstlerisches Schlüsselerlebnis war, ist so ein Meister des raffiniert Ausgedachten. Und er weiß um die Gefahr, den dünnen Grat.

In dem nun rechtzeitig vor Beginn der Europameisterschaft auch auf Deutsch präsentierten und wie immer von seinem Verleger Joachim Unseld schön übersetzten „Fußball“-Bändchen (Frankfurter Verlagsanstalt, 126 Seiten, 17,90 Euro) warnt der 58-jährige Autor schon im Vorspann: „Dieses Buch wird niemandem gefallen, den Intellektuellen nicht, die sich nicht für Fußball interessieren, den Fußballliebhabern nicht, die es zu intellektuell finden werden.“

An dieser klug-koketten Einschätzung stimmt natürlich nicht alles. Denn „Football“ war letztes Jahr gleich beim Erscheinen in Frankreich ein Erfolg, „Libération“, das Intellektuellenblatt, sprach von „Proust im Stadion“, worüber Toussaint vermutlich gelächelt hat. Nervend sind mitunter eher Denker, die sich durchaus für Fußball interessieren und den Ball mit dem Globus verwechseln. Schon die Trainer reden heute von ihrer taktischen „Philosophie“. Und selbst gebildeten Fußballliebhabern gehen die einst populären, immer ein wenig vulgärsoziologischen Gleichsetzungen zwischen Fußball und gesellschaftspolitischem Zeitgeist inzwischen auf den Keks. Es klang ja irgendwie gut, zu sagen, dass die (West-)Deutschen in der sozialliberalen Willy-Brandt-Ära (um 1972) ihren inspiriertesten und danach in der Kohl-Epoche ihren rumpelfüßigen Ball gespielt hätten. Aber was hat der durch spanische Vorbilder und die eigene neue Multikulturalität beschwingte Löw-Stil heute mit der (gewiss fußballbegeisterten) Kanzlerin Angela Merkel zu tun?

Jean-Philippe Toussaint hat mit solch generalisierenden, zeitanalytisch spekulativen Befunden auf angenehme Weise nichts zu tun. Zwar erwähnt er mal etwas ernsthaft Leonardo da Vinci – nur um dann unsere in Gedanken mitspielende, mitschaffend ausmalende Fantasie, also gleichsam den „Kopf-Ball“ zu beschreiben. Oder er assoziiert zum Thema Glücksgefühle ein Buch über Glühwürmchen und zur Trauer Hannah Arendts „Menschen in finsteren Zeiten“. Doch springt er gleich wieder über zu Beckett, ja Beckett und „Warten auf Godot“, dies freilich mit dem schönen Zitat: „So ist der Mensch nun mal: Er schimpft auf seinen Schuh, und dabei hat sein Fuß Schuld.“

Toussaint hat das bisher sonderbarste Buch über das größte Spiel der Welt geschrieben

Schriftsteller-Bücher über den Fußball stehen in stolzer Reihe: angefangen mit Nick Hornbys dem FC Arsenal gewidmetem, bei diesem Genre kaum zu übertreffenden Roman „Fever Pitch“. Vom Ballfieber – jenseits der Kindheitsparole „Elf Freunde müsst ihr sein“ oder von allen Spieler-Memoiren – sind auch Tim Parks Erinnerungen an eine Saison mit Hellas Verona beflügelt, es gibt Ronald Bergs „Traumhüter“ und Albert Ostermaiers Oden, Ror Wolfs Miniaturen, Moritz Rinkes Anthologie zu einem „schwarzgelben Jahr“ (mit Borussia Dortmund), dazu Christoph Biermanns Reflexionen, Klaus Theweleits „Tor zur Welt“ oder Javier Marías madrilenische Real-Fantasien. Und: Peter Handkes „Angst des Tormanns vorm Elfmeter“ ist gar sprichwörtlich geworden, auch wenn die Angst des Schützen die wirklichere ist.

Mit all diesen Vorgängern verbindet Toussaints schmaler, merkwürdiger, mal gedankenvoller, mal gedankenflüchtiger, zwischen Essay, autobiografischer Erzählung und Momentaufnahmen oszillierender Text fast überhaupt nichts. Es ist das bisher sonderbarste, minimalistischste Buch über das größte Spiel der Welt. Gleich, ob Toussaint über die WM 1998 in Frankreich, seinen Ausgangspunkt als Selbsterlebnis und Selbsterkenntnis, oder über seine Beobachtungen 2002 in Japan, 2006 in Deutschland oder zuletzt, aus der Ferne, 2014 in Brasilien schreibt: Es geht ihm nie um konkrete Ergebnisse. Auch nicht um Geld, Korruption, Fifapo. Nicht einmal um die Tore, es fehlt der für den gewöhnlichen Betrachter sinnstiftende „decesive moment“: wenn der Ball die Torlinie überschreitet. Wenn das Herz des Fans explodiert oder die Hoffnung zu Asche wird.

Für Toussaint liegt alle Magie bereits in der Zeitenthobenheit während des Spiels. Das übrige Leben und damit auch das vorbestimmte Ende wird bis zum Schlusspfiff symbolisch und tatsächlich angehalten. „So hält der Fußball (...) uns radikal auf Distanz zum Tod.“ Toussaint fährt fort: „Ich tue so, als schriebe ich über Fußball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt.“

Beim Fußball wie in der Liebe, wie beim Liebesakt, dessen Orgasmus im Französischen zum „petite mort“ wird, wartet neben dem Höhenflug so auch gleich die Schwermut.

Das ist Toussaints eigentliches Thema. Er hatte es als Augenzeuge im Berliner Olympiastadion 2006 beim WM-Finale, als Zinedine Zidane mit seinem Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi Frankreich durch den nachfolgenden Platzverweis um den Sieg brachte, bereits in dem kleinen Foto-Essay „Zidanes Melancholie“ angespielt. Wie Hemingway über den Tod beim Stierkampf, so schreibt in seiner Weise Toussaint über den Fußball.

Zidane wird ihm da zur mythischen Figur, doch nicht zum handelnden, allenfalls träumerischen Helden. Von geerdeten Helden und eher bleiernen Gedanken zeugt jetzt zum Gegenbeispiel Gunter Gebauer „Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs“ (Pantheon Verlag, München, 320 Seiten, 14,99 Euro). Und von gefallenen, manchmal auch nur ein wenig angeknacksten Helden ist jetzt in den lesenswerten Reportage-Reflexionen des „SZ“-Reporters Holger Gertz in „Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren“ die Rede (DVA, München, 237 Seiten, 16,99 Euro). Diese Bücher verhalten sich zu Toussaints „Fußball“ wie’s Schnitzel zur Molekularküche. Im Übrigen aber gilt: Das Spiel geht weiter.

Jean-Philippe Toussaint stellt „Fußball“ am Freitag um 19 Uhr in der Belgischen Botschaft in Mitte vor (Jägerstraße 52/53). Anmeldung: delegation-berlin@dgcfrw.de

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