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Kultur: Jeder Morgen könnte mir fehlen

„Leben Lernen“: Heute feiert Peter Härtling seinen 70. Geburtstag – und legt seine Erinnerungen vor

Am Anfang war die Blockade, denn das Schreiben kam dem Erinnern nicht nach. Die Bilder drängten sich in einer Geschwindigkeit auf, der die Erzählerstimme nicht gewachsen war. Aber welche Stimme? Wo ist der Spiegel, der die Ichs unverzerrt reflektiert? Sind es die Bücher, die zur Seite gelegten Notizen? Peter Härtling haderte mit sich, als er sich an seine Autobiografie wagte. Es sind methodische Probleme, an denen Härtling den Leser auf den ersten Seiten seiner Erinnerungen teilhaben lässt, keine grundsätzlichen. Anders als die meisten Schriftsteller, die das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte lieber anderen überlassen, wollte Härtling endlich „beim eigenen Ich bleiben“, statt es „erzählend zu objektivieren“. Beiläufig bringt Härtling so die Essenz seines schriftstellerischen Werks ins Spiel und gibt einen Hinweis zur Lesart mit. Aber sind Härtlings Romane über Hölderlin, Schumann, Schubert, ETA Hoffmann wirklich nur „Objektivierungen“ des Härtlingschen Ichs im Spiegel des tragischen Künstlerschicksals? Härtling begnügt sich listig mit diesem Wink, übergeht das eigene Werk aber ansonsten, wie man Selbstverständliches übergeht. Seine Erinnerungen verweisen auf das Leben, nicht auf sein Werk.

Peter Härtling wurde am 13. November 1933 in Chemnitz geboren, als „Sohn eines Rechtsanwalts“, wie es in den Lexika heißt. Vom Vater sah Härtling allerdings nicht viel. Der starb 1945 im russischen Kriegsgefangenenlager Döllersheim. Härtlings Mutter nahm sich im Oktober 1946 das Leben, sie starb drei Tage lang, ihre beiden hilflosen Kinder um sich. „Der Krieg raubte mir meine Eltern und schenkte mir die Gabe, mit den Toten zu sprechen“, schreibt Härtling. Von Anfang an vermeidet er die sonst übliche Deutung der Ereignisse im Hinblick auf die eigene Entwicklung. Die Frage, warum diese Ichs so und nicht anders geworden sind, versucht Härtling nicht zu beantworten. „Du hättest dich ganz anders entwickeln können“, diagnostiziert Fabian, der älteste Sohn Härtlings, ein Kinderpsychiater. Angesichts der traumatischen Ereignisse in dieser Biografie ein Satz, der sich aufdrängt. Härtling tappt nicht in diese Falle – er sucht nach Bildern, Gerüchen, Stimmen, Wörtern aus der Vergangenheit, und neugierig betrachtet Härtling manchen Fund. Die Mutprobe etwa, im Sommer 1941, wie er, das dünne „Hätschelkind“ , das unter dem Gelächter der Mitschüler Gedichte aufsagte, mit dem hartgesottenen „Jungvolk“ über Nacht wegblieb. Da schiebt sich das Männlichkeitsideal der Nazi-Zeit zwischen die Zeilen, ohne dass Härtling nur ein erklärendes Wort darüber verliert.

Härtling war das Kind eines häufig umziehenden Verwandtschaft-Clans. Erst freiwillig, vom sächsischen Hartmannsdorf ins mährische Olmütz, dann unfreiwillig auf der Flucht vor der sowjetischen Armee über Niederösterreich und Wien ins württembergische Nürtingen. Entkommen sind sie nicht, die Mutter wird vergewaltigt, der Vater verschleppt, Härtling aber breitet nur aus, was er mit eigenen Augen gesehen hat, ohne Larmoyanz oder versuchten Heroismus. Schließlich wird die schwäbische Kleinstadt zur Endstation der Mutter und dem Sohn zum lange andauernden Provisorium. In der Beschreibung der Gegenden und Wohnungen – so eine Kapitelüberschrift – wird die Unrast und Enge der ersten Jahre sichtbar. Mansardenwohnungen, in denen Matratzen tagsüber am Schrank lehnten, Kisten, die als Tisch vor die Betten gerückt wurden – dazwischen die kreischenden Stimmen der Tanten, die als höhere Töchter bald zu Fabrikarbeiterinnen degradiert wurden.

Bedrückender wurde die Enge der Nachkriegszeit selten erzählt, die Selbstgerechtigkeit der Verschonten, ihre muffige Moral, die Erniedrigung durch die Not. Dass ausgerechnet im Schwäbischen, dem Kernland pietistischer Lebensqual, für Härtling auch Rettung wuchs, macht ihn nachsichtig mit dem Ort, an dem er als Halbwüchsiger gestrandet war. Drei Figuren werden zu behutsamen Wächtern. Ein Pfarrer, ein Lehrer und ein Maler. Härtling beschreibt sie als „väterliche Dreifaltigkeit“. Der Maler und Bildhauer Fritz Ruoff, der ihm seine Bibliothek und Gedankenwelt öffnete, bewahrte Härtling vor dem Pathos der frühen Fünfzigerjahre. Statt Werner Bergengruen las der 16-Jährige die Schriften Willi Baumeisters und deklamierte Hölderlin. Ruoff, vermutet Härtling, antwortete auf die Erzählungen des Jungen von Krieg und Tod mit seinen Aschebildern. Leider verliert sich die Spur Ruoffs in diesem Buch wie wohl auch sein Einfluss.

Andere Begegnungen werden wichtiger. In dem Maß, in dem Härtling sich als junger Dichter ernst zu nehmen beginnt, treten die anderen zurück. Mit 20 Jahren veröffentlicht Härtling seinen ersten Gedichtband „poeme und songs“ im Esslinger Bechtle-Verlag. Härtling ist als aufstrebender Dichter und hauptamtlicher Jungredakteur nicht sympathischer als seine Kollegen. Ehrgeizig, hochfahrend, von Anfang an mit einem Sinn für gute Verbindungen ausgestattet. Nahtlos schließt sich Redaktion an Redaktion, der Schulabbrecher und Flüchtlingsjunge ist auf dem Karriereweg. Er heiratet die Jugendliebe, die zur Lebensliebe wird, das Paar kauft sich einen Sessel von Knoll, bekommt in sieben Jahren vier Kinder, Wohnungen und Städte folgen der Kurve des Aufstiegs. 1967 wird Härtling Cheflektor des S.Fischer Verlags, ein Jahr später Sprecher der Geschäftsleitung.

Wenn Lebensläufe zu Karrieren werden, sind sie als Stoff meist unergiebig. Die Wahrnehmung verengt sich aufs eigene Fortkommen, Erlebnisse und Begegnungen werden zu Anekdoten. Leider gleitet Härtling in der zweiten Hälfte des Buches zunehmend in diese Richtung ab. Namen werden aufgezählt, die nur für den Autor von Bedeutung sind, andere, namhaftere werden in seiner Erzählung zu Statisten. Ein Karpfenessen bei Günter Grass verursacht bei Härtling einen Eiweiß-Schock, Ingeborg Bachmann wird schlafend von Härtling und dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi durch Berlin-Steglitz nach Hause getragen.

So sehr sich Härtling in der Beschreibung der intellektuellen Zirkel verausgabt – es wird kein Kosmos daraus. Spätestens mit der Gründung des Wahlkontors für Willy Brandt hatten sich die Schriftsteller dem Betrieb untergeordnet. Eine Delegation des Kontors, darunter Klaus Wagenbach, flog nach Bonn, eine Art Schülerausflug in die Talmi-Welt der Politiker. Alle Frauen in der SPD-Zentrale, fiel Härtling auf, waren „ausgesucht hübsch“. Die Berührung mit der Politik wird fast zwei Jahrzehnte später handgreiflicher, als Härtling mit seinen Kindern im Flörsheimer Wald an der Besetzung der Startbahn West teilnimmt. Während der Räumung treffen ihn die Schlagstöcke der Polizei, Jahre später trifft ihn das Eingeständnis eigener Schwäche. Jedesmal, wenn er selbst mit einer Maschine durch die Waldschneise startet, schämt er sich als Nutznießer der Zerstörung. „Inzwischen ist mir klar, dass ich mich oft vorher und nachher hätte schämen müssen über das, was ich im Lauf meines Lebens verloren gab, verloren geben musste.“ Darin liegt viel von der Resignation einer ganzen Generation. Das alte Ich gebraucht Sätze, die mit „Noch einmal“ beginnen. Vor dem Urteil „Zum letzten Mal“ schreckt Härtling zurück. Aber aus der gefühlten Todesnähe macht Härtling auf seiner Homepage ein Gedicht. „Jeder Morgen könnte mir fehlen“, heißt es in der letzten Zeile. Heute wird Peter Härtling 70 Jahre alt.

Peter Härtling: Leben Lernen. Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 384 Seiten, 22,90 €.

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