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Kultur: Jedes Leben ist besonders

Die Nachrufe der „New York Times“ auf die Opfer des 11. September haben das Bild der Stadt von sich selbst verändert

Von Marc Deckert

Über Daniel Lopez aus Brooklyn heißt es, dass er seinen Freunden gern Streiche spielte. Manchmal ging Lopez mit seinen Späßen allerdings bis an die Grenzen des Erträglichen. Zum Beispiel damals, als er seiner Frau vorspielte, er sei von einer Leiter gefallen. Daniel Lopez hatte sich auf dem Boden zusammengerollt und jammerte, er habe sich beim Fallen das Ohr abgerissen. In seiner Hand hielt er ein rosafarbenes Stück Ohr, dass sich erst später als das dicke Ende einer abgebrannten Kerze entpuppte. Da allerdings war Frau Lopez bereits der Ohnmacht nahe.

Über Carrie Progen, die ebenfalls in Brooklyn lebte, heißt es, dass ihre wahre Leidenschaft immer die Kunst gewesen sei. Carrie arbeitete bei dem Risikomanagement-Konzern Aon. Jeden Tag, wenn sie mit der Linie A zur Arbeit nach Manhattan fuhr, hatte sie einen kleinen Notizblock auf dem Schoß und zeichnete skizzenhafte Porträts der anderen Fahrgäste. Diese flüchtigen Momente gehörten für sie zu den wahrsten im Leben, wie sie einmal ihrem Freund Eric erklärte. „Es sind die Momente, in denen die New Yorker am meisten nachdenken“, sagte sie. Vier Notizbücher füllte Carrie mit den Porträts fremder Menschen in der New Yorker U-Bahn.

Die Geschichten von Daniel Lopez und Carrie Progen haben nicht viel gemeinsam, außer einem Datum: dem 11. September 2001, dem Tag an dem beide unter den Trümmern des World Trade Centers begraben wurden. Sie sind nur zwei von rund 2800 Opfern der Terroranschläge, und beide Geschichten hätten wir niemals erfahren, wären ihre Leben nicht am 11. September ausgelöscht worden. Aber wenn es bei der menschlichen Aufarbeitung der Tragödie überhaupt etwas zu lernen gab, dann vielleicht das: Dass jede einzelne Geschichte erzählt werden sollte.

Am 15. September des vergangenen Jahren erschien in der „New York Times“ zum ersten Mal eine neue Seite mit Nachrufen: „Porträts der Trauer“. 15 Wochen lang erschienen erst täglich ein oder zwei, manchmal sogar drei Seiten der „Portraits“ in Amerikas renommiertester Tageszeitung, danach ging es in größeren Abständen weiter. Traditionelle Nachrufe waren die den Opfern des 11.September gewidmeten Texte nicht, eher Momentaufnahmen plötzlich abgebrochener Leben, kleine Skizzen, selten länger als eine Kurzmeldung, Klappentexte. Doch in den Geschichten kamen jene Dinge vor, die in Nachrufen sonst keinen Platz haben: Leidenschaften, Schrullen, Anekdoten, erfüllte und unerfüllteTräume, wenn es sein musste, sogar vorgespielte Leiterstürze.

In den meisten der Texte spielt das Sterben und der 11. September keine große Rolle. „Sie handeln nicht vom Tod, sondern vom Leben“, sagt Jon Landman, der Lokalchef des Blattes, der die Seite betreut. „Die Texte sind wie kleine Huldigungen, in denen wir versuchen, das Beste einer Person noch einmal zum Leuchten zu bringen.“ Für die Angehörigen sei es oft wie eine Therapie gewesen, diese Geschichten zu erzählen, so Landman. Aber auch New Yorker, die niemanden verloren hatten, pflegten das Lesen der „Portraits“ in den Wochen nach der Katastrophe wie ein Ritual – eines, das unterschiedliche Gefühle auslösen konnte. Das Lesen spendete Trost oder machte von neuem traurig. Es wühlte auf oder beruhigte. Eine Leserin schrieb der „New York Times“, dass sie niemals einschlafen könne, ohne vorher die Seite zu studieren. So wurde das Lesen der „Portraits“ von jenen, die davongekommen waren, als Akt des Gemeinsinns aufgefasst.

2219 Schicksale erzählten die Reporter der „New York Times“ bis heute, jüngst ist ein Buch der gesammelten Texte erschienen. Doch das Projekt ist – bald ein Jahr nach der Tragödie – noch nicht zu Ende: Die Seiten erscheinen zwar seit Januar nicht mehr täglich, sondern nur noch in losen Abständen, aber immer wieder entstehen neue Texte, tauchen neue n auf; immer noch gibt es Familien oder Freunde, die erst jetzt über ihren Verlust sprechen können und wollen. Die monumentale Aufgabe, jedes einzelne Leben, das bei den Anschlägen des 11. Septembers zerstört wurde, journalistisch zu würdigen, ist noch nicht bewältigt.

„Größte Menschenjagd“

Rund 140 Reporter der „New York Times“ schrieben und recherchierten für die „Portraits of Grief“. Seth Solomonow ist einer von ihnen und nennt es „die größte Menschenjagd in der Geschichte des Journalismus“. Der 31-Jährige erzählt von den Anfängen, damals in den Tagen nach dem 11. September: „Wir wussten, dass wir etwas über die Opfer schreiben wollten. Das Problem war nur: Niemand wusste etwas über die Opfer – wer sie waren und wie viele es gab.“ Am 14. September schwärmte ein halbes Dutzend Reporter aus, um jene Flugblätter zu sammeln, die überall an Zäunen und Hauswänden in der Nähe von Ground Zero klebten – darauf die Telefonnummern von Angehörigen, die nach vermissten Personen suchten. Die Reporter riefen jeden einzelnen an. Am Ende der Woche beschloss Janny Scott, die mit der Opfersuche betraut war, über jeden, dessen Name bekannt war, eine Geschichte zu schreiben, und die Texte dann zu sammeln. Das Konzept der Seite entstand erst später, als organisches Resultat der Recherchen.

„Anfangs ging die Arbeit sehr schnell voran“, erinnert sich Seth Solomonow. „Aber wir mussten auch behutsam sein. Wir sprachen immer wieder mit Menschen, die noch davon ausgingen, dass ihre Angehörigen wieder auftauchen würden. Ins Blatt nahmen wir nur die Fälle, bei denen alles darauf hindeutete, dass sie nicht mehr am Leben waren. Aber es gab immer ein Restrisiko, das wir uns irren würden.“ Eingetreten ist dieser Fall nie. Doch im Lauf der Recherchen stellten die Reporter fest, dass viele der Toten auf den Listen der städtischen Gesundheitsbehörde noch gar nicht verzeichnet waren. „Also glichen wir unsere Listen öfter gegenseitig ab und arbeiteten schließlich eng zusammen.“ Einige Hundert, ja sogar Tausend der Opfer waren bald gefunden, und die meisten Angehörigen bereit, über ihren schweren Verlust zu sprechen. Jon Landman sagt, dass „nur etwa eine von fünf Familien nicht mit uns sprechen wollte. Meistens riefen wir ein zweites Mal an. Aber wir bedrängten niemanden. Es war oft umgekehrt. Sehr viele Familien kamen auf uns zu, weil sie ihre Geschichte erzählen wollten.“ Darüber hinaus suchte man auf Gedenk-Websites nach Namen, die noch nicht erfasst waren, kontaktierte ausländische Konsulate, Firmen Gewerkschaften, sprach mit Nachbarn von Opfern, deren Familien nicht auffindbar waren. Bis zum Januar waren rund 1900 Porträts erschienen – über zwei Drittel der Opfer. „Doch damit begann erst der schwierigste Teil der Recherchen“, wie Seth Solomonow sagt. Die Kleinarbeit.

Ab Januar waren viele Telefonnummern nicht mehr erreichbar. Viele Hinterbliebene zogen weg aus New York. Die Wege wurden immer komplizierter. Zuletzt recherchierte Solomonow beispielsweise bei der „Gewerkschaft afroamerikanischer Feuerwehrmänner“ noch einmal nach Namen. „Manchmal sind es verrückte Umwege, auf denen wir immer noch von Opfern erfahren. Neulich rief mich der Besitzer einer Metzgerei in Manhattan an. Er sagte, er habe einen Stammkunden, den er seit dem 11. September nicht mehr gesehen habe, und wollte wissen, ob wir den schon auf unserer Seite hatten.“ Auch jetzt tauchen noch Familien auf, die es sich anders überlegt haben, „Menschen, die anfangs nicht mit uns sprechen wollten, können sich jetzt erst öffnen“, sagt Solomonow. „Das zeigt, wie lang viele brauchen, um die Ereignisse zu verarbeiten.“ Die Zeiträume zwischen dem Erscheinen der Seiten werden immer größer. Aber Jonathan Landman denkt auch beinahe ein Jahr danach nicht ans Aufhören: „Wir werden so lange weitermachen, bis wirklich nichts mehr geht.“

Unter den jüngsten Porträts, die gerade erst im Blatt landeten, findet sich die Geschichte der Geschäftsfrau Melissa Harrington-Hughes aus Kalifornien, die am 10. September nach New York reiste, um am 11. an einem Geschäftsfrühstück nahe des WTC teilzunehmen. Neu ist auch die Geschichte von Danny Smith, der im März des vergangenen Jahres eine Bypass-Operation hatte und seinen beiden Kindern damals einen Abschiedsbrief schrieb – nur für alle Fälle. Er überstand die Operation und begann im Juli 2001 bei der Firma Euro Brokers im World Trade Center zu arbeiten. Ende September 2001 musste seine Frau den Kindern den Abschiedsbrief zu lesen geben.

In den „Portraits“ ist die Rede von Alltäglichem, von Football und Baseball, von Sommerhäusern am Meer, von ersten Schultagen, von Familienfeiern und von Freundschaften, die seit dem Sandkistenalter bestehen. Die Porträts lesen sich wie Geschichten verborgener Leidenschaften der New Yorker: Obwohl fast alle, meist männlichen, Opfer in Finanzberufen arbeiteten, gibt es doch Hunderte von verhinderten Athleten oder Künstlern. Allein eine Würdigung der vielen jungen Männer, die lieber Rock-Schlagzeuger sein wollten, anstatt täglich bei Cantor-Fitzgerald oder Marsh&McLennan ihren Buchhalterjobs nachzugehen, wäre ein weiteres Buch wert. Ebenso lang wäre eine Liste der Familienväter, die „mehr Zeit mit ihren Kinder verbringen wollten“.

„Geordnete Schönheit des Lebens“

Was die „Portraits“ so anrührend macht, ist ihre Mischung aus Individualität und Universalität. Es ist wohl unvermeidlich, dass Leser in den oft detailreichen Texten Facetten ihrer eigenen Persönlichkeit entdecken. So gehen die Erzählungen buchstäblich unter die Schutzhaut, die uns gegen ab- strakte Opferzahlen von Horrorereignissen resistent macht. Doch auch das Gefühl der Betroffenheit, das sich beim Lesen einstellt, ist nicht individuell, sondern kollektiv. Der „New York Times“-Chefredakteur Howell Raines spricht davon, dass die Porträts „eine Art sozialen Klebstoff für unser Gemeinwesen, vielleicht für eine ganze Nation“ darstellen. Und wie immer, wenn Journalismus für solche Zwecke eingesetzt wird, ist er nicht nur der Wahrheit verpflichtet, sondern operiert auch mit Mythen. Hier ist es der amerikanische Traum von sozialem Aufstieg, Familienleben und vom Glück im Alltäglichen, auch vom Glück in der Routine. Es ist die „geordnete Schönheit des täglichen Lebens von Millionen Amerikanern“, wie Howell Raines in seinem Vorwort zur Buchversion „Portraits 9/11/01“ schreibt.

Für Jon Landman ist das Beste an den „Portraits“ ihre „demokratische Form“. „Normale Nachrufe sind hochgradig undemokratisch“, sagt Landman. „Ein Redakteur bestimmt, wie wichtig eine Person ist und die Länge des Nachrufs richtet sich dann nach den Verdiensten und der Prominenz.“ Bei den „Portraits“ dagegen finden sich Elektriker neben Weltökonomen, Kassiererinnen neben Karriere-Brokern. Jeder von ihnen hat den gleichen Platz. Das Bild New Yorks als Schmelztigel nimmt auf diesen Seiten von neuem Gestalt an. Nebenbei kommt in den universellen Themen – Familienglück und persönlicher Aufstieg – eine lebensbejahende Botschaft zum Vorschein. Allerdings auch eine, die sehr amerikanisch ist. „All diesen Menschen geht es eigentlich gut“, stellt Jon Landman fest. „Sie sind nicht alle reich, aber sie sind voller Hoffnung. “

www.nytimes.com/pages/national/portraits/

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