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Kultur: Jenseits der Stille

Ganzheitliche Konzepte gegen chronischen Tinnitus

„Tinnitus“, das ist zunächst nur eine harmlose lateinische Vokabel. Sie heißt soviel wie Geklirr oder Klang. Für eine Million Deutsche ist der Begriff aber auch die Kurzfassung für anhaltende Qualen. In ihren Ohren rasselt, klirrt und dröhnt es. Sie hören, was andere nicht hören. Und was sie hören, hört oft so schnell nicht auf. In der Medizin findet der Begriff „Tinnitus aurium“ für alle Ohrgeräusche Verwendung, die nicht von außen bedingt sind. Die Ursache ist bisher nicht geklärt, sie wird in krankhaften Veränderungen gesucht, an deren Beginn ein Stress-, Hör- oder Schalltrauma im Innenohr stehen kann.

Häufig steht zu Beginn ein Hörsturz, ein Ereignis, das pro Jahr einen von 3000 Bundesbürgern trifft. Als Ursache gelten Durchblutungsstörungen im Innenohr, wie es zu ihnen kommt, ist aber ungeklärt. 80 Prozent der Betroffenen klagen anschließend über Ohrgeräusche.

Chronisch heißt ein Tinnitus, wenn er mehr als drei Monate besteht. Viele Betroffene leiden unter Schlafstörungen, können sich nicht konzentrieren und werden in ihrer Verzweiflung über die quälenden Ohrgeräusche sogar depressiv. Auf der Suche nach der erlösenden Therapie wechseln sie unter Umständen Dutzende Male den Arzt. „Die Betroffenen greifen nach jedem Strohhalm, aber immer unter der falschen Prämisse der Heilung“, so die Erfahrung von Birgit Mazurek, die an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Berliner Charité das Tinnituszentrum leitet. Wer Heilung verspreche, also das völlige Verschwinden der lästigen Ohrgeräusche, verspreche in den meisten Fällen zu viel.

Denn der Höreindruck, der zu Beginn vielleicht durch akuten Stress hervorgerufen wurde, ist zu diesem Zeitpunkt meist schon bleibend im Gehirn verankert. Filterprozesse für Höreindrücke haben sich nachhaltig verändert, die verstärkte Wahrnehmung und negative Bewertung bestimmter Geräusche kann nicht so schnell rückgängig gemacht werden. Jeder Versuch, mit Methoden, die im Akutstadium helfen, den Tinnitus doch noch auszulöschen, birgt dann die Gefahr, den gegenteiligen Erfolg zu erzielen: Die Aufmerksamkeit für die quälenden Geräusche steigt noch.

Doch der Kampf gegen das ständige störende Klirren, Rauschen, Brausen und Klingeln ist nicht aussichtslos. Das Ziel einer ganzheitlichen Therapie kann auf lange Sicht darin bestehen, die Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn zu verändern. Bereits in den 90er Jahren wurde ein Konzept entwickelt, das weltweit als „Retraining-Therapie“ große Beachtung findet. „Das Prinzip besteht darin, dass der Patient durch äußere Stimulation lernt, vom Ohrgeräusch wegzuhören“, sagt Birgit Mazurek.

Der Betroffene erfährt zunächst, was das chronische Leiden mit Wahrnehmung und der Verankerung negativer Höreindrücke im Gehirn zu tun hat. Die zweite und dritte wichtige Säule der Therapie bestehen aus Entspannungstechniken und psychologischer Beratung. Dabei werden die Patienten in einem tagesklinischen Intensivprogramm betreut. Das hat unter anderem den Vorteil, dass die Übungen nicht in einer Ausnahmesituation stattfinden. Die Patienten können am nächsten Tag berichten, ob etwa die Anleitung zur Entspannung sich auch bewährt hat, als die Familie zuhause ihre Anforderungen stellte.

Die vierte Säule der Behandlung besteht im Einsatz von Geräten. Denn viele Tinnitus-Patienten leiden an einer Hörminderung, die möglicherweise zu der verstärkten Wahrnehmung von Eigengeräuschen führt. Die Hörgeräte werden in vielen Fällen mit einem zweiten Gerätetyp gekoppelt, der auch Patienten nützt, die kein vermindertes Hörvermögen haben. Das sind Rauschgeneratoren. Sie spielen ein beständiges leises Rauschen ins Ohr ein, das den Tinnitus zwar nicht übertönen soll, aber die akustische Hintergrundinformation erhöht, die Aktivität der Nervenbahnen im Hörsystem steigert und den altbekannten Quäl-Ton ins Abseits drängt.

Nebenbei könne auch das Tragen von Kopfhörern und das Hören von angenehmer Musik dem therapeutischen Zweck dienen, meint Helmut Schaaf, leitender Oberarzt an der Tinnitus Klinik im nordhessischen Arolsen: „Dies dient einerseits dazu, dass das akustische System in seiner ganzen Vielfalt genutzt werden kann, zum anderen werden Nerven-Verschaltungen so umgestaltet, dass aktive Filter wieder aufgebaut werden und das Tinnitus-Erleben in den Hintergrund treten darf.“

Weitere Infos: Deutsche Tinnitus Liga, www.tinnitus-liga.de. Tinnituszentrum der Charité, Tel. 450 55 50 09

Adelheid Müller-Lissner

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