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Kultur: Jenseits von Afrika

Wie Stoßzähne ragen weiße Scheinwerfer von beiden Seiten des Elbufers in einen kalt-nassen Himmel. Die elfenbeinernen Lichtsäulen bilden eine Art Tor über dem Hamburger Hafen.

Wie Stoßzähne ragen weiße Scheinwerfer von beiden Seiten des Elbufers in einen kalt-nassen Himmel. Die elfenbeinernen Lichtsäulen bilden eine Art Tor über dem Hamburger Hafen. Darunter: gelbe Barkassen, die emsig zwischen Landungsbrücken und jenem golden schimmernden Zelt-Theater auf der anderen Flussseite hin- und herpendeln, das nicht von dieser Welt sein soll. Es geht um Brückenschläge, um Fremde und Heimat. Es geht um Disney.

Am Sonntagabend hatte der als "schönstes Musical der Welt" nicht eben unbescheiden angekündigte "König der Löwen" im ehemaligen Hamburger "Buddy"-Theater Premiere. Nach einem fast achtmonatigen Umbau des als Gürteltier verpotteten Unterhaltungstheaters (Kosten: 40 Millionen Mark), sahen die 1900 Gäste etwas, das mit einem herkömmlichen Musical kaum zu vergleichen ist: Unter dem hellen Choral eines Zulu-Chors erhebt sich die Sonne als orangener Glutball über der Serengeti, eine Antilopenherde hüpft durchs Bild, Giraffen stolzieren derweil bedächtig und kämpfen um ihr empfindliches Gleichgewicht. Die Savanne erwacht und mit ihr eine theatralische Fantasie, die ihresgleichen sucht. Denn der "König der Löwen" geht in seinem opulenten Bilderreichtum und seiner musikalischen Kraft weit über das Musical-Genre hinaus, das in Deutschland nicht zu Unrecht seit Jahren in der Krise steckt. Mit symphonisch aufgeblasenen Pop-Events hat dieses Spektakel nichts zu tun. Tatsächlich ließ sich der nicht eben für riskante Operationen bekannte Disney-Konzern verleiten, das übliche Maß künstlerischer Freiheit deutlich zu überschreiten.

Wenn am Ende der pompösen Eingangssequenz das Löwenjunge den Tiervölkern, die sich am Königsfelsen eingefunden haben, als Thronfolger präsentiert wird, dann meint man zwar, die weithin bekannten Kinobilder wiederzuerkennen. Doch die Künstlerin Julie Taymor, die den "König der Löwen" in seiner Bühnenversion konzipierte, und das heißt: neu erfand, hatte den erfolgreichsten Disney-Film aller Zeiten gar nicht gesehen, als sie mit einer Theaterfassung des Zeichntrickfilms betraut wurde. Ihre Idee war so einfach wie genial: Sie entwickelte eine Maskerade, in der die Schauspieler-Tänzer nicht verschwinden, sondern als schwitzende, atmende, menschliche Wesen sichtbar bleiben. Der Zauber dieses Experiments geht aus dem Verzicht auf eine Illusionsmaschinerie hervor, die den Zuschauer unter ein visuelles Diktat zwingen würde. Stattdessen: Abstraktion. Man schaut in die Zahnradmechanik eines Fuhrwerks, an dessen Armen wie an Ölpumpen Gazellen auf und niederspringen. Puppen- und Schattenspiele überbrücken die Adoleszenzphasen des Löwenjungen - grausam ironische Kommentare auf den Lauf der Dinge. Und wird doch einmal geträumt, zum Beispiel wenn der Löwenprinz Simba sich ein märchenhaftes Königreich zusammenfantasiert, über das er gebieten will, dann meint man das explodierte Innenleben einer knallig-bunten Spieluhr zu sehen.

Seit das Stück 1997 am Broadway herauskam, hat diese Mischung aus Pathos und Slapstick schon in Los Angeles, Toronto, Tokio, Osaka und London funktioniert. Und auch nach Hamburg lässt sich die bis auf wenige Details unveränderte Inszenierung ohne Verlust verfrachten - zumal Julie Taymor ursprünglich sogar erwogen hatte, das Stück in einem Zeltbau herauszubringen. Dass die Sänger aus Italien, den Niederlanden oder Südafrika den Stoff glaubwürdig verkörpern, verdeutlicht seine transnationale Ausstrahlung. Denn die uralte Geschichte vom verlorenen Sohn, der von seinem machthungrigen Onkel in die Verbannung getrieben wird, bis er als der rechtmäßige Herrscher zurückkehrt, ist von archaischer Eindrücklichkeit. Da sieht man gerne über die Anstrengung hinweg, die die deutsche Sprache den Akteuren zuweilen abverlangt. Die von Elton John (Musik) und Tim Rice (Lyrics) komponierten Hits klingen in Deutsch (übersetzt von Michael Kunze) keineswegs schlechter.

Trotzdem zerfällt das Stück in zwei Teile. Denn mit dem Auftritt von Timon und Pumbaa, die in Simbas Dschungel-Exil zu dessen Gefährten werden, neigt sich der Plot jenem grotesken Figuren-Kabinett zu, das die Comic-Schmiede Disney immer wieder zur Belustigung seines Publikums einsetzt. Auch diese beiden Tölpel sind charmante Witzfiguren. Ihr Motto "Hakuna Matata" soll dem Löwen in der Einsamkeit neuen Lebensmut geben, und so ulken sie sich durch die Handlung, die sie selbst nur als Abenteuer verstehen. Aber sie sollen wohl auch verhindern, dass die tragische Dimension dieses Stoffes allzu krass und abschreckend zutage tritt.

So soll das farbenprächtige Afrika-Epos von Hamlet, dem unglücklichen Dänensohn, inspiriert worden sein, heißt es bei Disney. Der südafrikanische Komponist Lebo M., der im Programmheft lediglich unter "Additional Music & Lyrics" firmiert, hatte indessen einen ganz anderen Mythos im Kopf: Er dachte an Mandela und das Ende der Apartheid. Seine Songs, die Taymor stärker als alles andere beeinflussten, erzählen von dem Wunsch, das von Stammesfehden und den Folgen der Rassentrennung gebeutelte Land möge sich auf seine Tradition besinnen - und irgendwie wieder zu sich selbst finden. Auch der in Soweto aufgewachsene Lebo Morake entfloh seiner Heimat im Alter von 14 Jahren und schlug sich in den USA zunächst mittelllos als Musiker durch. Es sind seine percussiven, klaren, eine transzendentale Ahnengemeinschaft anrufenden Lieder ("One By One", "Shadowland") sowie die folkloristischen Spirituals, deren Erfahrungsschatz das Musical von den Kitsch-Gemälden der Lloyd-Webber-Schule abheben.

So schildert eine der beeindruckendsten Szenen den Befreiungskampf, den die Löwinnen gegen das Hyänen-Regime beginnen. Die hässlichen Aasfresser sind zwar Karikaturen ihrer selbst, dumm, feige und nur als Meute stark, doch scheut sich Taymor nicht, auf der Bühne einen Bürgerkrieg zu entfesseln, ein ungezügeltes Jeder-gegen-jeden, als das Joch zusammenbricht. Nichts ist "König der Löwen" weniger, als ein Kindermusical. Es soll, so die Disney-Strategie, ein Familienereignis sein. Wer dieses Stück großen, bewegenden Musiktheaters gesehen hat, wird mit dem Rest vermutlich nur noch wenig anfangen können.

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