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Kultur: Jetzt geht’s aufwärts

Alle reden von der Kinokrise. Sieben Gründe, warum das Kinojahr 2005 trotzdem ganz toll war – und das nächste noch besser wird

Trotz DVD-Boom, trotz Video-on-demand, trotz Plasma-Bildschirm, trotz Beamer, trotz Heimkino noch und noch: In diesem Jahr sind immer noch über 100 Millionen Kinotickets verkauft worden. Tusch! Zwar nicht die 130 bis 135 Millionen, die der alle diesbezüglichen Informationen derzeit monopolisierende Verband der Filmverleiher dem Tagesspiegel gestern schmackhaft zu machen suchte, was immerhin einem Minus von rund 18 Prozent entspräche. Sondern – bei kumulierter Verwendung zugänglicher Daten und unter Zuhilfenahme der Grundrechenarten – bloß rund 118 Millionen. Ein fettes Minus von 25 Prozent, wie es die deutsche Kino-Statistik seit Menschengedenken nicht verzeichnete. Aber bleiben wir, wie der Verleiherverband, unerschütterlich optimistisch: Kino ist und bleibt die „Energiestation“, das „Lagerfeuer für alle“. Auch wenn der verbandsseitig vor ein paar Wochen angekündigte „heiße Winter“ sich derzeit selbst kinometeorologisch eher frostig anlässt.

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Unsere Multiplexe sollen schöner werden! Und sie werden es schon: Damit die in den letzten 15 Jahren schnell hochgezogenen und nun zügig vergammelnden Zweckkästen eine Zukunft haben, wird umgebaut. In Düsseldorf gibt es ein Doppelstock-Kino, das die Cola-Eimer-Klientel ins Obergeschoss verbannt. Unten gibt’s den anspruchsvollen Film. In Lübeck stellen sie Sofa-Kuschelsitze ins Multiplex, Speis und Trank wird bei Bedarf zugereicht. Und die Cinemaxx-Foyers erstrahlen demnächst womöglich im Licht von Kristalllüstern, abgetrennt von der kalten Welt da draußen mit Vorhängen aus Schwerstbrokat. Hin zum „kulturellen Wohlfühltheater“, wie es den Oberen des Kinobetreiberverbands vorschwebt. Große Oper – warum nicht? Prosecco statt Popcorn, vielleicht sogar, „Sideways“ lässt grüßen, bald Pinot Noir?

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Was die Statistiker auch feststellen: Die Jungs zwischen 13 und 25, bislang die großen (Taschen-)Geldbringer , hängen derzeit vornehmlich hinter ihren Spielekonsolen, pappen als Bürostuhl-Potatoes am Internet, dauergucken lieber ins Handy. Na und? Dafür fallen plötzlich andere Zuschauerschichten auf. Die Generation 30 plus macht bereits die Hälfte der Besucher aus, und um die Abteilung 50 plus will sich das Kino stärker kümmern. Schon belegen Studien, dass die Leute keine Special Effects mehr wollen, sondern Stories, Themen, Schauspieler, die was taugen! Jetzt muss das Kino sich nur noch ein bisschen anstrengen und, schwupps, sind wir bei der locker angepeilten Verleiherverbands-„Zielmarke“ für 2006: 150 Millionen glückliche Kinobesucher, fast so viel wie letztes Jahr.

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Und die aggressive Raubkopierer-Verjage-Dauerstrategie? Vielleicht, meinen nun immer mehr Beobachter, schüchtert sie ja manchen Illegal-Downloader ein, aber sie vertreibt auch gutwillige Kinobesucher . „He Sie da, die Sie Ihr Handy recken, um die schönsten Lippen seit Brigitte Bardot zu verewigen! Und wenn Sie jetzt gleich den ganzen Film . . .? Sie schaden dem Gemeinwohl, der Volkswirtschaft, insbesondere uns Filmgeschäftsleuten, weshalb wir demnächst die entgangenen Einnahmen glatt auf den Ticketpreis . . .“ Nein, nicht wörtlich so. Aber der barsche, wohl bei molwanischen Einwanderungsbehörden abgelauschte Ton ermüdet. Übrigens, ohne zu jammern: Filmkritiker hatten es hier 2005 besonders schwer. Mit Sicherheitskontrollen wie in Krisengebiets-Flughäfen – und neuerdings werden sogar handverlesen eingeladene Hauptberufler mitunter während der Vorstellung fürsorglich per Nachtsichtgerät belauert. Gar nicht gut für den Spaß am Kino, auch nicht für die Kinomacher, dieser diskrete Schmarrn der Filmindustrie. Auch das wird 2006 unbedingt besser werden.

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Und inhaltlich? So schlecht war 2005 gar nicht. Zum Beispiel der deutsche Film. Mit zehn „Besuchermillionären“, wie die Verbandsleute gerne formulieren, allen voran „Die weiße Massai“, haben sie für die Gesamtstatistik noch Schlimmeres verhütet. Und hat nicht bloß ein bisschen Glück gefehlt – jene 20 Millionen zahlende Zuschauer zum Beispiel, die (siehe Grafik) letztes Jahr allein das Trio der gut aufgelegten Albernheitsmanufakturen von „(T)raumschiff Surprise“ und „7 Zwerge“ gemeinsam mit dem hitlerverfinsterten „Untergang“ gelockt hat? Und was da erst nachwächst: allenthalben großartige deutsche Debüts, von „Netto“ bis „Katze im Sack“, von „Der Wald vor lauter Bäumen“ bis „Allein“. Klopfen wir daher auf die alte Statistiker-Weisheit: Wenn’s dem heimischen Film gut geht, geht’s auch dem Kino-Umsatz insgesamt gut. Bernd Neumann, oberster Kulturstaatsonkel und Filmförderinstrumentspieler, übernehmen Sie!

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Rund 450 Filme pro Jahr, die einander die Luft zum Atmen nehmen und mitunter schneller verschwinden, als sie wahrgenommen werden können: Da wird der Cineast im Dschungel zum Jäger und Sammler. Und konnte doch fette Beute machen. Von „Hautnah“ im Januar bis „Match Point“ zu Silvester. Von „Garden State“ bis „Elizabethtown“. Und quer durch die Welt: von „L’esquive“ (Frankreich“ über „Brothers“ (Dänemark), „Paradise Now“ (Israel/Palästina) über „Nobody Knows“ (Japan) bis „El abrazo partido“ und „Extraño“ (Argentinien). Alles Super-Filme. Man musste sie bloß finden im Dickicht der Remakes und Sequels, der verfilmten TV-Serien und und und. Im allgemeinen Lärmen.

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Manches aus Hollywood ist bitter abgeschmiert in 2005: „Die Insel“ etwa, „Königreich der Himmel“ oder „Batman Begins“. Noch einmal: Na und? Manches aus der Retortenfabrik wird auch 2006 floppen. Nur gut so. So wird das neue Jahr endgültig zum Umdenken zwingen. Mögen die Jüngeren tatsächlich zeitweise abwandern ins Internet; mögen viele Ältere einstweilen ihren Spaß am eigenbestimmten, nicht werbeblockunterbrochenen, technisch hochkomfortablen DVD-Heimkinovergnügen kultivieren: Irgendwann ist das Kino wieder da. Für ein anspruchsvolles Publikum, das bereits Kontur gewinnt. Feiner als heute werden die Kinos sein, in Sachen Komfort und Technik. Und, vor allem, mit feineren Filmen. Mögen 100 heiße Frühlinge, Sommer, Herbst, Winter . . . und Frühlinge blühen: Die fernere, mittlere, nahe Kinozukunft kann gar nicht anders als rosig sein.

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