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Kultur: Jetzt wissen wir’s. Und weiter?

Geheimnisverrat als Massenphänomen: Die große Wikileaks-Welle ist erst einmal verebbt. Nachruf auf einen Rausch

Natürlich hat es Sinn und Nutzen zu wissen, was andere hinter dem eigenen Rücken tun und sagen. Wenn wir demnächst, Julian Assange sei Dank, zum Beispiel im Winterurlaub erfahren, dass die USA ein geheimes CIA-Gefängnis unter unsere Lieblingsskipiste gebaut haben, verschließen wir davor nicht die Augen. Vielleicht ärgern wir uns, weil wir so beim Skifahren moralische Bedenken haben müssen. Vielleicht nehmen wir an einer Demo teil, an der wir auf dem Weg zum Lift vorbeikommen. Wir sind dafür, Ungerechtigkeiten publik zu machen. Und es ist naiv, für oder gegen Wikileaks zu sein. Nur, was ist das Ziel?

Der große Aufruhr ist vorbei und das ist schade – weil er uns Antworten auf diese und andere Fragen schuldig geblieben ist. Julian Assange ist mehr oder weniger auf freiem Fuß, zu seinem Projekt Wikileaks scheint fast alles gesagt. Es gibt die, die glauben, dass die Welt dadurch besser wird. Und es gibt die, die Angst haben: um ihre Geheimnisse, um die westlichen Demokratien, um ihren exklusiven Status als Rechercheure. Die Verrenkungen, die in der vergangenen Woche unternommen worden sind, um gute Information von schlechter Information zu unterscheiden, hatten beinahe etwas Belustigendes. Die Klärung der entscheidenden Frage wurde jedoch versäumt: Worum geht es bei Wikileaks? Um Investigation? Wird ein System desto besser, je mehr dunkle Machenschaften ans Licht gelangen? Wird es moralischer?

Man muss sagen, nein. Weniger Geheimnisse minimieren böse Energien nicht, sie verlagern sie nur. Und dann wäre die nächste Frage: Gibt es aber eine totalitäre Transparenz, die jede Verlagerung unmöglich macht? Wohl nur gesetzt den Fall, wir wären moralische Roboter, mit binärer Logik programmierte Computergehirne, die man mit investigativem Material füttert und die daraus jederzeit richtige Schlüsse ziehen. Sind Menschen so? Verhindert der beschleunigte Informationsfluss, dass Regierungen geheime Gefängnisse bauen, unter Skipisten oder sonst irgendwo?

Richtig, es gibt Machenschaften, die unserem moralischen Empfinden widerstreben, von denen ohne Wikileaks niemand erführe. Doch in der Hoffnung, dass sie durch ihre Veröffentlichung aus der Welt verschwänden, stecken gleich drei Irrtümer. Erstens: dass sich jeder Sachverhalt eindeutig beschreiben lässt. Zweitens: dass jede Beschreibung zu einer eindeutigen moralischen Beurteilung führt. Drittens: dass sich durch Einsicht ins moralische Urteil jeder zur angemessenen Handlung verleiten lässt.

Nehmen wir an, alle Menschen wären solche moralischen Roboter. Dann würden wir rasch Koordinationsprobleme bekommen. Wir bräuchten nicht nur eine sichere Beschreibung unserer moralischen Welt, in der wir alle übereinstimmen. Wir bräuchten auch ein komplexes Management, das die unterschiedlichen Aktionen diktiert: Jetzt die Regierung abwählen, jetzt demonstrieren, jetzt kein Hühnerfleisch ...

Menschen ticken nicht so, Menschen ticken gar nicht. Es ist uns unmöglich, alle Informationen gleichermaßen ernst zu nehmen. Wir haben schon immer gern woanders hingeblickt, wenn Nachrichten uns zur moralischen Stellungnahme aufgefordert haben. Wir zappen weiter oder haben Sex während der Tagesschau. Wird Wikileaks die Welt besser machen? Wer das glaubt, sieht in Menschen Gerechtigkeitsmaschinen, in denen der Algorithmus der richtigen Sätze und ihrer fest ableitbaren Moral regiert.

Julian Assanges Panmoralismus ist in Wahrheit Nihilismus und Technokratiefaschismus. Dessen Helden sind Übermenschen, die mit der richtigen Technik alles zum Guten programmieren; die Firewalls einreißen und Massenbrände stiften, indem sie das Schießpulver der Geheimnisse an das Volk verschenken. Das ist die Weltsicht der politischen Hacker. Man muss nur denjenigen, die nichts haben, alles geben.

Als ob Information nicht zuerst ein sprachliches Produkt wäre! Kein von Menschen ausgesprochener Satz bezieht sich auf keinen Sachverhalt eindeutig. In ihrer Isolation vor dem PC haben die Informationsfreaks aber eine soziale Beziehung zu einem Gerät aufgebaut, das immer denselben, eindeutigen Output hat. Der Mensch sagt A, und das Programm antwortet B. Das liefert einen funktionierenden Minimechanismus des Sozialen, an den sich einige Technokraten offensichtlich so gewöhnt haben, dass sie die ganze Menschheit nach diesem Bild modulieren wollen. Ich hacke Information A und alle jubeln: B! Zwischenmenschlicher Informationsaustausch funktioniert anders: Ich sage A und im besten Fall überlegt sich mein Gegenüber, ob das wirklich A heißt. Gut so! Kommunikation ist kein Datenfluss, sondern ein sozialer Tauschhandel von Ideen, ihre Währung ist überzeugt sein, Fan werden, es grad mal geil finden. Menschen sind Menschen, keine Server!

Wenn Julian Assange ein Robin Hood der Informationsverteilung ist, dann ein blinder. Er unterscheidet das Wichtige nicht vom Unwichtigen und vertraut auf die Wirkungsmacht der reinen Fakten. Die kommen als klassisches Netzprodukt daher: zusammengesetzt aus den immergleichen Codes, ohne Wertigkeit, ohne erkennbare Urheber. Das ist fatal. Urheber übernehmen Verantwortung und beziehen Stellung. Hier liegt die Chance klassischer Autoren-Medien, übrigens auch im Netz. Die Kompetenz, die Leser von Zeitungen einkaufen, ist nicht die reine Weitergabe von Informationen, es ist auch die profilierte Perspektive, die etwas darstellt und Auskunft darüber gibt, wie sie etwas darstellt. Die in Kolumnen explizit macht, dass jemand Raum zu denken hat, und in Artikeln verschiedene Perspektiven montiert. Eine gute Zeitung ist zuallererst diskursiv, nicht nur informativ. Ein großes Verdienst des Internet ist vielleicht, dass sie es – befreit aus der reinen Chronistenpflicht – heute umso mehr sein kann.

Muss man deswegen das CIA-Gefängnis unter dem Skihang leugnen? Nein, aber das Wissen darum hat noch keine Qualität, im Gegenteil: In der Masse der Enthüllungen wird es entwertet. Unsere ausgeprägten Haltungen rühren nicht zuletzt aus einer Welt, in der es um mehr geht als um die reine An- und Abwesenheit von Information. Die kann man mit revolutionärem Pathos für nichtig erklären und, wie es Julian Assange an einer Stelle gefordert haben soll, „zerschmettern, zerschmettern, zerschmettern, bis alles in Ruinen liegt, für die Saat des Neuen“.

Für uns ist aber selbst das Internet kein Raum einer Gemeinschaft von neuen Übermaschinen. Es ist Teil unseres Alltags, das wird in der Debatte um die Hardcore-Informationisten und Hacker-Nerds gern vergessen. In manchen Dingen sind wir Experten, in anderen nicht, manchmal sind wir nur Fans, wir haben Meinungen und richten unser Handeln danach aus. Erobern wir uns das Netz zurück: als Diskursbataillon, nicht als Informationstank.

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