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Kultur: Joseph Beuys verbeugt sich vor Leonardo, Paul Klee macht sich über antike Göttinnen lustig

Wenn sich Kaiser Tiberius der Wurzeln seiner Geschichte vergewissern wollte, brauchte er nur einen Blick von seiner Villa am Meer bei Sperlonga an der Thyrrenischen Küste auf seine Grotte zu werfen. Denn in diese Naturhöhle hatte er die Heldentaten seines Stammvaters Odysseus als kolossale Figurengruppen in Marmor meißeln lassen, des erhabensten aller Helden, der Troja zerstört und damit die Gründung Roms initiiert hatte.

Wenn sich Kaiser Tiberius der Wurzeln seiner Geschichte vergewissern wollte, brauchte er nur einen Blick von seiner Villa am Meer bei Sperlonga an der Thyrrenischen Küste auf seine Grotte zu werfen. Denn in diese Naturhöhle hatte er die Heldentaten seines Stammvaters Odysseus als kolossale Figurengruppen in Marmor meißeln lassen, des erhabensten aller Helden, der Troja zerstört und damit die Gründung Roms initiiert hatte. Das gigantische Freilichttheater athletischer Körper ist nun im Haus der Kunst in München als Zentrum der von Bernard Andreae konzipierten Ausstellung "Odysseus. Mythos und Erinnerung", theatralisch nachinszeniert worden.

Als "interessanteste Figur der griechischen Mythologie" sieht der römische Archäologe den leidgeprüften Abenteurer und Irrfahrer der Epen des Homer, und tatsächlich ist der Mythos von Odysseus unsterblich. Warum? Wie entsteht ein Mythos? Im Mythos von Odysseus, meint Andreae, verknüpften sich Erinnerungen an staunenswerte, außerordentliche Taten und Erlebnisse nicht nur eines, sondern vieler Menschen, die in Wort und Bild weitergegeben würden. Odysseus wurde zum Prototyp aller mythischen Gestalten, weil in seiner Figur scheinbar unvereinbare Qualitäten miteinander verschmolzen: Er war mutig und listig, zupackend und nachdenklich, zerstörerisch und leidensfähig. Vor allem war er ein unersättlich neugieriger Weltenfahrer und Entdecker unbekannter Gefilde - kurz, der Mythos des Odysseus vereinigt alle nur vorstellbaren Höhen und Tiefen menschlicher Schicksale. Mythen entzünden sich an rätselhaften Personen.

Leonardo da Vinci, das 1452 in Vinci in der Toskana geborene Universalgenie, war Künstler und zugleich einer der innovativsten Wissenschaftler seiner Zeit. Genau diese Qualität "nach zwei Richtungen", der intuitiven und der analytischen, fesselte über 400 Jahre später Joseph Beuys und diente ihm zur Identifikation mit dem "Mythos" Leonardo. Beuys bewunderte nicht nur die Leistungen, sonden auch die Legende Leonardos, die dieser, wie durch Quellen belegt, schon zu Lebzeiten sorgfältig vorbereitete. Vor allem in den "Codices Madrid"-Zeichnungen von 1974 / 75, benannt nach zwei verschollen geglaubten Skizzenbüchern Leonardos, die 1964 / 65 in der Nationalbibliothek Madrid wiedergefunden wurden, setzte sich Beuys intensiv mit Leonardos prozesshafter Arbeitsweise auseinander, der er sich nahe fühlte. Diese zarten Gedankenskizzen des Künstlers werden nun im Haus der Kunst dem weltberühmten "Codex Leicester" von Leonardo, entstanden zwischen 1506 und 1510, gegenübergestellt.

Auf 18 doppelseitig beschriebenen Blättern hielt Leonardo, der Erforscher des "Körpers der Erde", in Spiegelschrift seine Naturbeobachtungen fest und illustrierte sie durch Zeichnungen - die Bewegung der Gewässer zum Beispiel, das Licht des Mondes und die Farbe der Atmosphäre. Der Dialog zweier radikaler Geister wie Leonardo und Beuys, ermöglicht nicht zuletzt durch den Eigentümer des Codex, den Computer-Tycoon Bill Gates, der ihm 1994 rund 49 mythentaugliche Millionen Dollar wert war, ist die zweite von vier großartig inszenierten Ausstellungen im Haus der Kunst, die Christoph Vitali und sein Team im Bann der Mythen und Mythologien von der Antike bis zur Gegenwart derzeit präsentieren. Beide, Leonardo wie Beuys, dachten weniger kategorisch als metaphorisch, weniger in Systemen als in Analogien, dem Stoff, aus dem die Mythen entstehen.

Genau dieses frei schweifende Assoziieren in Bildern, Vergleichen und Entsprechungen verbannte die positivistische, rationalistische Moderne. Ihr Unbehagen an Mythen und Mythologien teilte zum Beispiel der 1879 in Bern geborene Paul Klee. Sein Werk kann eher als eine Distanz vom Mythos denn als Annäherung an ihn begriffen werden, wie rund 140 für die Ausstellung "Paul Klee - In der Maske des Mythos" zusammengestellte Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde nun belegen. Obwohl Paul Klee die antike Mythologie als kulturelles Erbe hoch schätzte, lehnte er es ab, sie zu idealisieren.

Es waren vor allem weibliche Mythengestalten, die ihn faszinierten - Sibylle, Kirke, Aphrodite, Sphinx, Diana oder Venus. Klee karikierte sie, aber nicht, um sie lächerlich zu machen, sondern um gegen den erstarrten Regelkanon zu rebellieren. Als "bescheidener und unwissender Selbstlehrling" suchte Klee nach einer eigenen künstlerischen Sprache. Durch Deformation hoffte er, dem Epigonentum zu entkommen. Manchmal lieh er sich gar die Maske eines Gottes, zum Beispiel den Flügelhelm des Hermes für ein 1903 entstandenes Selbstporträt "Der Komiker". Im Gegensatz zu Beuys fehlte Klee der Hang zur Selbstüberhöhung, sein Selbstverständnis war ironisch gebrochen.

Hatte die Moderne mit ihrem kausalen Denken in Gegensätzen des Entweder-Oder die Nabelschnur zum Mythos zerschnitten, so feiert die Postmoderne mit ihrer allgegenwärtigen Popkultur erneut alte und neue Mythen in spielerischem Cross-Over. Denn Mythen sind der Urboden aller Kommunikation, und um diese geht es in der Ausstellung "TALK.Show", die die "Kunst der Kommunikation in den 90er Jahren" untersucht. Wie werden gute, wie schlechte Nachrichten überbracht? Welche Irrfahrten durchsurfen Menschen heute, bis sie von anderen Menschen verstanden werden? Wie machen Moderatoren heute aus Stars mit Hilfe der Medien Mythen? Auf solche bietet die Ausstellung mit Hilfe von 21 jungen internationalen Künstlern - darunter Pipilotti Rist, Sam Taylor-Wood, Heimo Zobernig und Daniel Pflumm - ebenso amüsante wie nachdenkenswerte Antworten. Dass das Wesen der Kommunikation selbst ein Mythos ist, belegen die Telefone, die Rirkrit Tiravanija installierte. Wer mit wem wann ins Gespräch kommt, kann durchaus einem Abenteuer des Odysseus gleichen.Haus der Kunst München, bis zum 9. Januar 2000: Odysseus. Mythos und Erinnerung; Leonardo da Vinci - Joseph Beuys (ab 30. Januar im Berliner Martin-Gropius-Bau); Paul Klee - In der Maske des Mythos; TALK.Show. Die Kunst der Kommunikation in den 90er Jahren

Eva Karcher

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